Vieles, was du schilderst, erinnert mich an meinen Rüden, als er bei mir noch ganz neu war. Dino hat zu dem Zeitpunkt aber schon 2 Jahre in Berlin gelebt und kannte den deutschen Hundealltag daher schon - trotzdem hat er mich an manchen Stellen überfordert. Manchmal hätte ich ihn auch gerne auf den Mond geschossen...
Als Beruhigung vorweg: heute ist er der tollste Hund überhaupt. Ich kann mir ein Leben ohne meinen Terrorkeks nicht vorstellen.
Seit 6 Wochen wohnt Lily bei mir. Sie ist eine ca. 10 Monate alte Mischlingshündin und kommt aus Rumänien.
Sechs Wochen sind nicht lange. Du musst bedenken, dass sie ja nun in einem völlig neuen, fremden Land lebt. Sie versteht deine Sprache nicht, sie kennt das Leben im Haus vermutlich auch nicht und Gassi gehen wird ihr sowieso fremd sein. Für sie ist das alles völlig neu. Neue Gerüche, neue Geräusche, neue Menschen, neue Worte ... auf einen Auslandshund prasseln in den ersten Wochen und Monaten SO VIELE neue Reize ein, dass viele damit völlig überfordert sind.
Angeblich ist sie sehr verträglich mit Hunden und Menschen, kennt die Leine, ist nicht ängstlich und super lieb und dankbar.
Das "dankbar" streich mal aus deiner Vorstellung. Auslands- und Tierschutzhunde sind nicht "dankbar". Die sind erstmal völlig verstört, wenn sie in eine neue Umgebung gebracht werden, insbesondere nach einem langen Transport wie eben aus Rumänien ...
An der Leine gehen? Fehlanzeige, sie zieht wie eine Wahnsinnige, würgt sich am Halsband beinahe ab und selbst am Geschirr fängt sie an zu keuchen. Ich übe indem ich immer stehen bleibe, wenn sie zieht, aber das bringt gar nichts. Mit der Methode stehen wir 1 Stunde lang für 5 Meter. Sie hört selbst im Stehen nicht auf zu ziehen.
"Kennt die Leine" heißt in vielen Fällen eher "rastet nicht völlig aus, wenn man sie anleint". Ich glaube, du hast das als "geht schon gut an der Leine" interpretiert, kann das sein?
Dino hat, als er zu mir kam, auch erstmal gezogen wie ein Irrer. Mit seinen 16 kg war er gut zu halten, anstrengend war es aber trotzdem. Mir hat es viel Druck genommen, dass ich ihn einfach habe ziehen lassen - am Geschirr. Da kann der Hund zwar potentiell mehr Kraft entwickeln, aber es ist nicht sooo schädlich für den Hundekörper...
Die Stehenbleiben-Methode lass mal sein. Die bringt euch im Moment rein gar nichts, weil Lily viel zu aufgeregt ist, um irgendwas zu lernen.
Was Dino und mir zusätzlich geholfen hat: immer die gleichen Runden gehen. Keine super langen Spaziergänge, eine Stunde hat ihn am Anfang schon ziemlich gefordert (und wir erinnern uns, er lebte damals schon 2 Jahre in DE!). 20 Minuten sind erstmal völlig ausreichend. Immer die gleiche Runde, der Hund darf schnüffeln, markieren und die Welt erkunden. Du passt eigentlich nur darauf auf, dass nichts passiert. Mehr machst du am Anfang erstmal nicht.
Sie ist tatsächlich verträglich mit Hunden, aber ein wenig zu freundlich. Sie rastet förmlich aus, wenn wir einem Hund begegnen. Sie fängt an zu winseln, bellen, fast schon zu schreien, bis wir den anderen Hund begrüßen. Aber da viele das nicht möchten, muss ich sie hilflos an anderen Hunden vorbeiziehen, sie ist in den Momenten gar nicht ansprechbar.
Das klingt, als wäre sie bei Hundesichtung extrem aufgeregt. Du kannst ihr helfen, indem du Hundekontakt und Sichtungen erstmal komplett vermeidest. Wenn du einen Hund siehst - schlag einen anderen Weg ein und weiche aus.
Wenn du nicht ausweichen kannst, versuche, einen Bogen zu laufen, wenn der Weg breit genug ist. Geh auf Abstand, zeig Lily, dass sie sich damit jetzt nicht beschäftigen muss.
Und wenn es gar nicht anders geht oder ihr zwei schon mit den Nerven am Ende seid: dreht einfach um. Bis ihr einen anderen Weg einschlagen könnt.
Wenn du in der Stadt lebst und es in deiner direkten Nähe keine hundearmen Strecken gibt, dann würde ich dir empfehlen, dass du sehr früh morgens und sehr spät abends gehst, wenn kaum noch jemand unterwegs ist. Oder du fährst raus in die Pampa, ins Grüne, wo weniger Menschen unterwegs sind und der Hund mehr Raum zum Ausweichen hat.
Es hat bei Dino Monate gedauert, bis er sich bei der Sichtung eines anderen Hundes nicht mehr komplett "abgeschossen" hat. Auch heute noch vermeide ich konsequent andere, fremde Hunde, weil er an der Leine pöbelt. Durch gezieltes Training mit einer erfahrenen Trainerin in Einzelstunden ist es viel, viel besser geworden. Das würde ich dir statt der Gruppenkurse übrigens auch empfehlen - such dir einen Hundetrainer, der gezielt mit dir und Lily alleine an euren Baustellen arbeitet.
Menschen sind so eine Sache. Frauen sind in Ordnung, werden sogar manchmal freudig begrüßt. Vor Männern hat sie allerdings Angst und diese Angst setzt sich leider in Aggression um. Sie verbellt alle Männer im Umkreis, knurrt sie an und schnappt in die Luft.
Dino hat am Anfang alle Menschen auf der Straße vehement verbellt. Wochenlang. Männer waren schlimmer als Frauen. Auch auf eine Distanz von 50 m ist Dino schon ausgeflippt.
Auch hier hat uns am Anfang Vermeiden geholfen. Menschen lassen sich natürlich nicht immer vermeiden, das ist das Doofe. Mit der Zeit wirst du an Sicherheit gewinnen und deinem Hund vermitteln können, dass das nicht schlimm ist.
Bei Dino hat es "gereicht", dass ich mir irgendwann keinen Stress mehr darum gemacht habe, dass er dann halt nen Mann auf der anderen Straßenseite verbellt. Ich geh weiter, zieh den Hund notfalls hinter mir her und das wars. Völlig unaufgeregt.
Es hat sicher drei Monate gedauert, bis Dino ruhig an Fremden vorbeigehen konnte. Zwar immer noch mit zig Metern Abstand, aber es war für ihn dann auch recht bald kein Problem mehr, wenn uns jemand angesprochen hat. Manchmal hat es Dino auch geholfen, wenn er eine "Aufgabe" hatte, also z. B. ein Stöckchen tragen durfte. Da ist er dann ziemlich stolz an den anderen Menschen vorbeispaziert
Momentan ist Lily aber noch zu aufgeregt für sowas. Euer Ziel ist jetzt erstmal, ihre Trigger zu vermeiden, damit sie etwas Stress abbauen kann.
Im Haus ist sie total unauffällig, schläft viel, spielt mit Kuscheltieren, macht Suchspielchen und ist generell ein toller Hund. Sie kann sogar schon Sitz, Platz und Pfötchen geben. Aber draußen und bei Ablenkungen, egal welcher Form ist sie nicht ansprechbar. Sie interessiert sich weder für Lecklies noch für Spielzeug in diesen Momenten.
Dass sie im Haus zur Ruhe kommt, ist SUPER WICHTIG und schon mal super gut. Zuhause erholt sie sich von den neuen Dingen, die ihr begegnet sind, verarbeitet Gelerntes und tankt neue Energie.
Dass sie in den 6 Wochen, die sie schon bei dir ist, schon Sitz, Platz und Co. kann, ist zwar nett, für euch aber erstmal nicht so wichtig. Man sagt, dass man erst mal den Alltag trainieren sollte, bevor man sich um Tricks kümmert - denn die helfen euch im Alltag nur bedingt.
Mein Tipp: fahr das Training zuhause runter. Lass sie schlafen, lass sie mit ihren Kuscheltieren spielen, lass sie in Ruhe. Die muss erstmal ihren Umzug verarbeiten, je nach Hund dauert das auch mal 2-3 Monate.
Zum unterstrichenen: Das ist für dich ein klares Anzeichen dafür, dass sie draußen aktuell noch viel zu gestresst ist. Lass ihr Zeit und setz sie nur dosiert neuen Reizen aus.
Als Shelter-Hund hat sie höchstwahrscheinlich nicht viel kennen gelernt. Das kann sie zu Teilen jetzt nachholen - je nachdem, ob sie komplett im Shelter aufgewachsen ist oder vorher schon auf der Straße gelebt hat, wird es einige Dinge geben, die sie nie wieder aufholen kann, weil die Strukturen im Gehirn dafür fehlen. Ich ruf dir mal Phonhaus dazu, die kann das Thema Deprivation besser erklären als ich.
Ich war letzte Woche in der Hundeschule für einen Alltagsgruppenkurs. Das ging voll in die Hose. Wir mussten nach der halben Zeit gehen, weil sie nur geschrien und gewinselt hat. Sie erträgt die Nähe von anderen Hunden überhaupt nicht.
Wie gesagt: streich das Gruppentraining und hol dir einen guten Trainer für Einzelstunden ins Boot. Du merkst ja selbst, dass sie im Moment noch viel zu aufgeregt ist, um sich draußen überhaupt zu konzentrieren.
Nur so als Beispiel: ich mache seit rund 2 Jahren Mantrailing mit meinem Dino. Angefangen haben wir damit, als er knapp 9 Monate bei mir war - denn da war er soweit "angekommen", dass er mir vertraut hat, unseren Alltag gut kannte und die gröbsten Probleme wie das Menschen verbellen, die krasse Aufregung gegenüber anderen Hunden und auch die Panik beim Autofahren einigermaßen behoben waren.
Vorher macht es in meinen Augen keinen Sinn, den Hund zum Gruppensport zu schleppen.
Angefangen hab ich Mantrailing übrigens, damit Dino seine Ängste gegenüber Menschen auf spielerische Art und Weise abbauen konnte. Wir haben mit ganz kurzen Suchstrecken angefangen, am Anfang hat die Person, die sich versteckt hat, ihn auch komplett ignoriert und nur seine Futterbelohnung auf den Boden gestellt. So musste er sich nicht direkt mit der Person auseinandersetzen, sondern erstmal "nur" in ihre Nähe. Beim Fressen wurde er dann auch nicht angesprochen und nicht gestreichelt, sondern explizit nur von mir gelobt.
Inzwischen ist er mit einem Feuereifer dabei, zeigt kaum noch Angst gegenüber "seinen" Staffel-Kollegen und geht in dem Sport richtig auf.