Schwierig händelbarer Hund mit Deprivation - was tun?

  • Hallo,

    wir haben eine 4-jährige Hündin (American Staffordshire Terrier Mix) übernommen. Die Vorbesitzer waren total überfordert, wollten sie so schnell wie möglich loswerden, sind nur mit Würgehalsband vor die Tür gegangen und haben der Hündin zu wenig zu fressen gegeben, weil sie Angst hatten, sie nicht halten zu können. Wir sind bereits die 4. Besitzer des Hundes, niemand ist mit ihr klar gekommen; sie wurde nur weitergereicht. Ursprünglich stammt sie von einem illegalen Welpenhändler und ist wohl sehr reizarm aufgewachsen.

    Die Hündin ist draußen sehr reizüberflutet. Wir wohnen nicht direkt in der Innenstadt, und in der Umgebung gibt es ein paar grüne Ecken; aber man trifft u.U. schon eher mehr Menschen und Hunde. Sie starrt alle Kleinigkeiten intensiv an, und schaut zu allen Seiten, ist sehr aufgeregt; kommt ein anderer Hund, pöbelt sie massiv. Sie hat Kraft ohne Ende; selbst mein Partner (der wesentlich mehr Masse aufweist als ich) muss schon alle seine Kräfte zusammen nehmen, um den Hund zu führen.

    Im Wald ist sie ein klasse Hund. Sie ist generell sehr temperamentvoll, hat einen großen Bewegungs-, und Freiheitsdrang, aber das ist ja alles in Ordnung. Solange sie keine interessante Fährte gefunden hat (sie hat Jagdtrieb), hört sie auch wunderbar. Leider können wir es nicht leisten, mit ihr für jeden Spaziergang in den Wald zu fahren. (Der Weg dahin im Auto ist auch extrem stressig für sie), und wir stellen uns die Frage, ob ein Hund mit dieser Vorgeschichte, ein Hund, der in der Sozialisierungsphase nur wenige, oder negative Erfahrungen gemacht hat, ob es für diesen Hund je möglich sein wird, bei uns ein stressarmes Leben zu führen? Wir wohnen halt nicht direkt auf dem Land und hier sind immer eher mehr als wenige Leute unterwegs, und wie gesagt, bei reizarmer Umgebung ist sie ein echter Schatz.

    Wir geben uns viel Mühe mit der Hündin. Wir machen Kopfarbeit mit ihr, gehen ausgiebig raus mit ihr (auch sehr regelmäßig in den Wald), wir barfen sie, wir haben mit zwei verschiedenen Hundetrainern zusammengearbeitet, aber ich habe irgendwie dieses Gefühl, dass es das beste für sie wäre, in einem ländlichen Zuhause (auch mit Garten) zu leben. Da stellt sich aber auch die Frage, über welchen Weg man so einen Hund am besten vermittelt? Oder gibt es doch eine Chance, dass sie ihre Deprivationsschäden hier aufarbeiten kann? Sie hat hier halt zwangsläufig immer einen ganz schönen Stresspegel draußen.
    Vielleicht hat ja hier jemand Erfahrungen mit solchen Hunden. Ich würde mich über eure Meinungen zu der SItuation, wie ihr damit umgehen würdet etc. sehr freuen.

    Vielen Dank!

  • Ich habe so einen Hund, einen Kleinen Münsterländer, den wir auch 4jährig übernommen haben. Inzwischen ist er 11. die ersten 2 Jahre waren sehr, sehr anstrengend. Er war ständig überreizt und agierte mit Aktion, kläffen, in die Leine springen... Und hatte auch kein Vertrauen zum Menschen. Wir haben Spaziergänge gern in ruhigen Gegenden gemacht und sonst sehr lange nur Alltagstraining. Nach 2,3 Jahren Mantrailing (tat ihm sehr gut!) und irgendwann ein Begleithundekurs. Hat er gemeistert, war aber schwierig. Der Hund ist im Grunde toll und ein Schatz und seit einigen Jahren hat er einen Zwei- und Vierbeinigen Fanclub. Da hätte ich nach der anfänglichen Herausforderung nie mit gerechnet. Man muss ihn immer noch in einigen Situationen managen, aber er hat sich unglaublich entwickelt.

  • Seit wann habt Ihr die Hündin? Mit welchen Erwartungen habt Ihr sie geholt? Was habt Ihr über welchen Zeitraum mit den beiden Hundetrainern gearbeitet?

  • Nach dem Lesen den ersten Gedankengang von mir: Warum übernimmt man so einen Hund? Warum leitet man nicht den Tierschutz ein?


    Jetzt stellst Du fest, dass dieser Hund für Euch ungeeignet ist und nun sollen andere Menschen sich kümmern. Ich habe Verständnis dafür, wenn man Hunde aus schlechten Verhältnissen herausholen möchte; aber bitte: wenn der Vorbesitzer den Hund einfach schnell loswerden will, dann ist eine sofortige Hilfe doch besser durch die Tierschutzbehörde gesichert.


    Hilft jetzt alles nichts! Hinterher bist auch Du schlauer! Hund im Tierschutz abgeben - kostet eine Gebühr; jedoch werden sich diese Menschen um geeignete künftige Besitzer sehr bemühen. Das wäre mein Rat!


    Alternativ könntet Ihr mit einem qualifizierten Hundetrainer langfristig an den Problemen arbeiten und auch bedingt zu einem guten Ergebnis kommen. Das kostet jedoch Geld, Zeit und unglaublich viel Geduld.

  • Wie lange habt ihr die Hündin schon?

    Meiner Erfahrung nach ist es besser eher weniger zu unternehmen. Wie läuft sie ihm Wald? Ruhig? Oder unter Strom? Das Temperament kann auch Ausdruck ihrer Überforderung sein. Auch kann der Hund bei Stress in den Jagdtrieb fallen.


    Wenn ihr wissen wollt wie groß eure Chancen sind damit umzugehen, dann holt euch einen guten und ehrlichen Trainer. Was haben denn die Trainer bisher für Ansätze genannt? Wie lange seid ihr deren Ansatz gefolgt? Welche Entwicklung gab es da schon? Wie arbeitet ihr aktuell?

    Natürlich würde es einem solchen Hund besser gehen in ruhiger und reizarmer Umgebung. Die Sozialisation holt man nicht auf. Der Hund kann lernen mit diversen Reizen umzugehen, wenn man ihm das passende Leben dazu baut.


    Was bei meiner Hündin mit Deprivation (in der Großstadt lebend) wichtig ist, ist Routine, wenige Bezugspersonen, keine Erwartungen, lieber Schritt zurück als nach vorn, so viele stressfreie Tage wie möglich, gleiche Wege, wenig Veränderungen, viel Führung/Unterstützung meinerseits, Aufbau von Alternativverhalten, positive Erlebnisse ...

  • tassut Grinsekatze1 Wir haben die Hündin seit Oktober 2020 geholt. Uns wurden die Probleme weitläufig verschwiegen. Wir wollten den Hund vorher kennenlernen; dies wollten die Vorbesitzer jedoch nicht. Wir konnten wenigstens vor Ort einen Probespaziergang durchführen; da hing sie non-stop vorne in der Leine, war überhaupt nicht ansprechbar; andere Hunde hatten wir nicht getroffen. Die Besitzerin hatte noch einen weiteren Hund; beide haben sich wohl gegenseitig angestachelt (diesen hatte sie vorher an den Vorbesitzer zurückgegeben). Sie gab zu, dass sie dem Hund zu wenig Futter gibt, aus Angst, sie draußen nicht halten zu können, dass sie alleine Sachen kaputt macht, und sie schon die dritte Besitzerin ist und den Hund einfach nur loswerden möchte (sie hätte den Hund wirklich an JEDEN abgegeben). Wir haben den Hund genommen, damit sie eine Chance auf eine glücklichere Zukunft hat - und so gut wie wir uns um sie kümmern - so gut, hat sie es noch nie gehabt, und so viel Mühe hat sich mit ihr bisher noch niemand gegeben.

    Die anderen Probleme, die ganzen Hintergründe und Zusammenhänge kamen dann erst bei uns zu Hause nach und nach ans Tageslicht. Dass sie ursprünglich von einem illegalen Welpenhändler stammt, haben wir erst später durch gewisse Fehler und Nachforschungen herausgefunden, d.h. wir wussten vorher nicht, dass es SO schwierig werden wird, und ehrlich gesagt, es ist auch ok, denn wenn wir den Hund nicht genommen hätten, wäre sie mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit richtig unter die Räder gekommen.


    Ich würde - wenn ich sie abgebe - niemals ins Tierheim geben, für mich kommt grundsätzlich nur eine direkte Übergabe an einen hundeerfahrenen und ländlich wohnenden Hundehalter, am besten mit Garten in Frage.


    BettiFromDaBlock An Hundetrainern war ein "klassischer" Hundetrainer bei uns und einer, der nach Maja Nowak arbeitet. Der erste riet uns zu Handfütterung, um sie an uns zu binden. Wir haben dies mehrere Wochen zwar getan, hatten aber den Eindruck, dass sie dadurch noch mehr im Stress ist und habe dazu auch passende Artikel gelesen, und haben das wieder gelassen. Der zweite Hundetrainer riet uns dazu, sie durch eine souveräne Führung, durch ein körperliches Eingrenzen, ihr Sicherheit zu geben und ihr mitzuteilen, dass wir die Situationen managen, wenig Veränderungen, wenige Reize etc. Das waren aber alles Dinge, die wir vorher praktisch auch schon so gemacht haben, und sie hat in manchen Bereichen auch Fortschritte gemacht, dennoch sind ihre Probleme so massiv, dass ich mir eben die Frage stelle, ob der Hund langfristig hier überhaupt den ganzen Stress abbauen kann. Denn so wie es ist, ist es eben sehr schwierig und sie ist eigentlich ein toller Hund, ich würde ihr einfach wünschen, dass sie glücklich sein kann (ob das jetzt nun bei uns, oder woanders ist).

  • Also mit Training wird das alles wahrscheinlich etwas besser werden, aber mit dem Umfeld wird es trotzdem nicht gelingen das stresslevel dauerhaft niedriger zu bekommen und deshalb werden die Probleme nicht verschwinden.


    Wenn ihr nicht vorhabt umzuziehen wird es schwer bis unmöglich je nach eurem Händchen in hundeerziehung und Trainern.

  • Ich muss nochmal nachfragen, weil mir das beim Lesen nicht klar geworden ist: wollt Ihr mit der Hündin arbeiten und wünscht Euch Tipps hier im Forum, ggf. auch Trainertipps? Oder wollt Ihr eine Art "Legitimation", Unterstützung von uns, dass eine Abgabe ok ist? Ich meine das ganz neutral, ich kann verstehen, wenn man mit dem Verhaltenspaket überfordert ist. Mir gehts einfach um die Frage, in welcher Richtung wir Euch unterstützen können/sollen.

  • 4 Monate sind in der Depriviationszeitrechnung gar nichts. Vor allem, wenn ihr da schon zwei verschiedene Trainer hattet.


    Was macht ihr denn genau wenn eure Hündin überfordert ist? Wie sieht euer Tagesablauf aus? Wie oft kommt sie ins Freeze/Pöbeln? Passiert das täglich. Sind eure Tage sehr routiniert?


    Nur mal zum Vergleich. Meine Hündin hat nach einem stressigen Erlebnisstag definitiv einen Tag nur Pippi auf der Wiese vorm Haus und der Rest des Tages wird geschlafen. Würde ich an dem Tag Besuch empfangen, würde das nicht als stressfreier Tag zählen. Ein stressiges Ereignis aktiviert viele Botenstoffe und ähnliches. Diese brauchen mehrere Tage um abgebaut zu werden. Passiert dies nicht, dann kommt der neue Stress auf den alten und der Hund ist komplett drüber.


    Mein Tipp ist zwischen 1 Uhr nachts und 3 Uhr nachts Gassi zu gehen. So habe ich die ersten Monate verbracht, wenn ich nicht rausfahren konnte. Wir arbeiten seit 2 Jahren an dem ganzen, haben enorme Fortschritte, aber es ist wichtig auch einen Ansatz lange durchzuziehen. Euer Hund muss erstmal lernfähig werden. Das funktioniert gestresst nicht.


    Edit, aber wenn ihr für sowas nicht bereit ist, dann sollte der Hund natürlich ein besseres Zuhause bekommen. Das zu finden wird nicht einfach,

  • tassut Es ist so, dass wir grundsätzlich dazu bereit sind, mit der Hündin zu arbeiten (tun wir ja ohnehin seit sie bei uns ist), wir aber bisher keine Erfahrungen mit Hunden mit Deprivation gemacht haben, und wir uns die Frage stellten, ob es überhaupt möglich ist, mit dem Hund, hier, in diesem Umfeld (höheres Aufkommen von Hunden und Menschen) , großartig Fortschritte zu erzielen. Daher wollte ich mir hier verschiedene Meinungen, Erfahrungen, Tipps etc. einholen, um selbst die Situation besser einschätzen zu können: Nämlich, ob es Schritt für Schritt besser werden kann, oder ob ein Hund mit dieser gravierenden Vergangenheit nicht am besten in einer sehr reizarmen Umgebung leben sollte. Mein Gedanke war, dass sie evtl. durch ihren permanenten Stresspegel nie wirklich groß dazu in der Lage sein wird, etwas positiv zu lernen.

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