Die große kleine herbstliche DF-Leserunde

  • Ich habe jetzt die ersten 100 Seiten durch.

    Spoiler anzeigen

    Die Sprache ist schon sehr derb, ich persönlich müsste das so krass nun nicht haben, bislang schreckt es mich aber auch nicht ab. Es passt halt zum allgemeinen Setting und zur Handlung.

    Schwierig finde ich, dass es bislang so gar keine Identifikationsfigur gibt. Würde auch nicht zum Buch passen, denke ich, aber dadurch gehe ich emotional nicht so richtig mit. Das bislang Gelesene ist schrecklich, brutal, krass - aber ich fühle mich davon bis jetzt bis auf wenige Ausnahmen so unberührt. Was auf eine verquere Art aber vielleicht auch Sinn macht, irgendwie diese totale Abgestumpftheit der handelnden Personen wiederspiegelt.


  • Bis Seite 202 gelesen..


    Spoiler anzeigen

    "Unbehagen" ist wohl das Wort, mit dem ich meine Leseerfahrung hier bislang am treffendsten zusammenfassen kann. Ich habe ja schon so einiges an hartem Tobak gelesen, aber die Sprache hier ist wirklich überaus derb und vulgär. Ja, es passt zu dem, was erzählt wird, trotzdem finde ich es sehr anstrengend und abstoßend und wünsche mir gelegentlich nur mal ein, zwei Seiten ohne Kraftausdrücke und heftige s*xuelle Inhalte.


    Angesprochen werden auf jeden Fall interessante Themenbereiche, die auch zum Nachdenken anregen - mich beschäftigt zum Beispiel die Frage, inwiefern Armut und Elend eben auch Gleichgültigkeit und Grausamkeit hervorbringen, was es mit der Menschlichkeit der handelnden Personen macht, selbst nie Wärme und Zuneigung erfahren zu haben.

    Unerwartet kam für mich, dass auch das Themo Homosexualität/sexuelle Identität eine so zentrale Rolle in dem Buch spielt. Internalisierte Homophobie, homosexuelle Lust in einer gnadenlosen Macho-Kultur und inwiefern die eigenen Bedürfnisse und Gefühle ausgelebt werden können, ohne dafür geächtet zu werden - das ist schon krass und vermutlich doch nicht weit weg von der Realität für so einige Menschen.

    All die Verbitterung, die Resignation, der Selbsthass und der Hass auf andere in dem Buch machen es mir aber recht schwer, die Lektüre emotional gut auszuhalten. Obwohl das Buch zweifelsohne so gesellschaftlich bedeutsame Themenkreise aufkreist und das auf eine sehr ungeschönte und gerade deshalb gewiss auch authentische Weise, fasse ich es nur mit spitzen Fingern an und möchte es nach dem Lesen am liebsten ganz weit hinten in mein Bücherregal stopfen. Es löst also durchaus was in mir aus, womit die Autorin sicherlich den gewünschten Effekt erzielt hat.

    Dennoch frage ich mich, ob dieses Ausmaß an Schlechtigkeit, Grausamkeit und Brutalität der Realität völlig standhält, denn auch in noch so geplagten Verhältnissen gibt es doch zumindest hie und da ein Aufblitzen von Menschlichkeit, eine vereinzelte zärtliche Geste, ein herzhaftes Lachen - aber vielleicht ist da auch mein Wunschdenken ausschlaggebend.

  • Spoiler anzeigen

    Für mich hat sich das so angefühlt, als wären die einzelnen Figuren eigentlich nur verschiedenen Stimmen zum eigentlichen Grundthema. Es ist für mich die Chronik des Elends in diesem Dorf, die erzählt wird, nicht die des Lebens der Figuren, die die Sprache des Elends sprechen. Es ist für mich das Leid, das hyperrealistisch und kondensiert dargestellt wird, nicht die einzelne Figur.

  • Ich bin nun durch und ehrlich gesagt erleichtert darüber. Irgendwie war es mir doch etwas too much, obwohl ich schwerer Kost (Anna Mitgutsch "Die Ausgrenzung" oder mit ein paarAbstrichen Ines Bayards "Scham" - letzteres in der Sprache auch etwas derber) ja wirklich nicht abgeneigt bin.


    Spoiler anzeigen

    Phonhaus Da magst du recht haben. Ich frage mich nur, inwiefern das eben "sinnhaftig" ist, die Leute als derart verdorbene, hoffnungslose Figuren auftreten zu lassen, von denen man sich ja rasch angewidert abgrenzt, weil sie einem eher als Monster denn als Menschen vorkommen. Aber wie im Fall Pélicot zB aufkam, sind die meisten Täter halt gar nicht so offensichtlich verdorben, sondern bis dahin oft aunauffällige Väter, Kollegen, Kumpels. Was ich persönlich noch grauenhafter und beunruhigender finde, dass eben vermeintlich völlig "normale" Menschen schlimme Taten begehen und sich an Leid und Angst und Schmerz und Ohnmacht ergötzen können.

    Aber vielleicht zerdenke ich gerade auch wieder zu sehrxD

  • Jetzt hab ich das Buch ja vorgeschlagen und muss sagen: Mir geht es auch so.

    Ich kannte es noch nicht, aber ein anderes Werk der Autorin (Paradais), das mich beeindruckt hatte. Nun quäl ich mich mit den Wirbelstürmen etwas herum, bin aber auch erst auf Seite 50 oder so.

  • Spoiler anzeigen

    Mir ging es, wie ich ja von Anfang an hier angesprochen habe, da sehr ähnlich. Wenn es nicht für diese Leserunde hier gewesen wäre, hätte ich das Buch wohl noch vor Ende des 1. Kapitels abgebrochen. Und das mache ich eigentlich so gut wie nie, mir fällt nur 1 anderes Buch ein, dass ich nie zuende gelesen habe. Im 1. Kapitel fand ich es aber auch noch besonders schwierig zu lesen, das hat sich dann zumindest etwas verbessert. Aber es ist mir teils wirklich schwer gefallen wenigstens 1 Kapitel am Stück zuende zu lesen, die kamen mir teils elend lang vor.


    Zur Interpretation kann ich nicht so viel sagen, das liegt mir nicht so, ich lese meist ohne mir so viele Gedanken zu machen, fand es aber sehr spannend diese hier zu lesen und kann ihnen größtenteils nur zustimmen.


    Da ich selbst mal in sehr ländlichen, ärmlichen Regionen Mexikos für 3 Wochen unterwegs war, da eine Freundin dort hin ausgewandert ist, hatte ich teils die Bilder von dieser Reise sehr im Kopf. 2012 ist natürlich nicht so mit der Zeit, in der es spielte zu vergleichen und ich hatte nur sehr freundliche Gastgeber und bin nicht auf so verrohte Zustände gestoßen, aber zumindest die ärmlichen Verhältnisse dort, die sich so sehr von unserer Lebensrealität unterscheiden, bestanden teils noch. Der Zustand der Straßen, Häuser, Autos in den ländlichen Dörfern ist einfach nicht mit unserem Lebensstandard zu vergleichen. Ich erinnere mich, dass wir einmal einen Ausflug in eine kleine naheliegende Stadt unternehmen wollten. Als längere Zeit nichts passierte, fragte ich nach, ob wir noch dorthin fahren. Es hieß dann, Nein, sie hätten die Information bekommen, dass sich dort gerade eine berüchtigte Bande aufhält und daher wäre es zu gefährlich. Auf der Hochzeit meiner Freundin hat sogar eine Mariachi Band gespielt und ihr Partner sie mit einer Serenade "erobert". Sie berichtete auch, dass Aberglauben dort noch sehr verbreitet ist. Keine inhaltliche Interpretation, aber ich musste beim lesen oft daran denken.

  • Jetzt hab ich das Buch ja vorgeschlagen und muss sagen: Mir geht es auch so.

    Ich kannte es noch nicht, aber ein anderes Werk der Autorin (Paradais), das mich beeindruckt hatte. Nun quäl ich mich mit den Wirbelstürmen etwas herum, bin aber auch erst auf Seite 50 oder so.

    Ich kann nur sagen, es wird nicht besser. Für mich waren Kapitel 5 und 6 glaube (geht um die Charaktere Norma und Brando) die schlimmsten, die sind noch weit fieser als die ersten.

  • Ich muss gestehen, dass ich auch froh war, dass ich recht schnell lese und es so einigermaßen zügig hinter mich bringen konnte :hust: Definitiv kein Buch, das zum Verweilen oder gar Schwelgen einlädt. Aber gerade deshalb spannend, weil es halt lohnend ist, da hinzuschauen, wo es wehtut.

    tinybutmighty

    Spoiler anzeigen

    Ich finde nicht, dass Du „zerdenkst.“ Das Buch will ja durchdacht und nicht genossen werden.

    In irgendeinem Interview hat die Autorin gesagt, dass Marquez‘ „Herbst des Patriarchen“ ihr die Inspiration für die Erzählweise gegeben hat. Es ist sehr, sehr lange her, dass ich dieses Buch gelesen habe, aber der Hinweis hat ein wenig beim Einsortieren geholfen. Im „Herbst“ wird die „Biografie“ des sterbenden bzw. toten Patriarchen gewoben als Flickerlteppiche aus Berichten Anderer über Episoden seines Lebens. Und über den ganzen Roman hinweg bleibt er mehr Symbol als Figur. Um die Erzählenden geht es nicht.

    Bei der „Saison der Wirbelstürme“ ist es ähnlich, aber nicht ganz so. Denn um die Hexe geht es hier ja irgendwie so ganz und gar nicht. Und das fuchst mich immer noch ziemlich. Es geht mehr um die Erzählenden als um die Hexe, aber letztlich auch nicht um sie. Es geht meiner Interpretation nach um das Bild ihrer Lebensumstände, das sie zeichnen.

    Ihre Handlungen werden mMn auf persönlicher Ebene weder erklärt noch entschuldigt, weil das nicht erforderlich ist. Sie tun das, was sie tun, weil es ihnen so von dem Leben, das sie führen müssen, vorgegeben ist. „Täter“ ist schon fast zu ein starkes Wort für sie, weil ihnen im Raum dieser Erzählung nicht wirklich eigene Agenda für ihr Handeln zugestanden wird. Sie sind Menschen, keine Monster. Monströs sind ihre (von Menschen gemachten) Umstände.

    Es erinnert mich ein wenig an das „epische Theater“ nach Brecht. Brecht wollte weitgehend weg von der antiken Erzähltradition, das Publikum per „Furcht und Schrecken“ zu erschüttern und ihm so zur Erkenntnis zu verhelfen, oder von der klassischen Tradition (die daraus „Angst und Mitleid“ gemacht hat), zur Erkenntnis zu verhelfen über Verständnis für das Handeln der Personen und Empathie. Was er zeigen und „verstanden“ wissen wollte, waren die Umstände und Zustände, unter denen seine Figuren so handeln, wie sie es tun. Er hat sich wohl seinerzeit noch erhofft, dass man die ändern könnte (und vielleicht sogar will), wenn man sie versteht. Identifikation mit seinen Figuren wäre für ihn ein Missverstehen dessen gewesen, um was es ihm geht. Und ein bequemer Ausweg.

    Und ähnlich würde ich es hier lesen. Die Figuren sind für mich jenseits von Schuldzuweisung oder Vergebung. Was nicht zu vergeben ist, ist das Leben, das sie führen (müssen). Die Schuld sitzt da, wo zugeschaut wird. Und da dieses Buch mich als Leserin konsequent in die Position des Zuschauers verweist, ist die Schuldfrage, die ich mir am Ende stelle, die nach meiner Eigenen.

    Das Scheußliche daran ist, dass es wiederum individuell tatsächlich nicht so viel gibt, was man tun könnte. Außer Hinsehen.

    Die Autorin selbst ist Journalistin, was für mich auch ein Stück weit beim Einsortieren hilft. Sie zeigt und bezeugt das Elend, macht es sichtbar. In einer Welt, deren relatives Wohlgefühl mit darauf beruht, das zu verdrängen, was aus dem Raster fällt.

  • tinybutmighty Noch eine Ergänzung, ich habe über den Bezug zur wiederholten Vergewaltigung von Gisèle Pelicot nachgedacht, den Du angesprochen hast. Geografisch und kulturell deutlich näher bei uns.

    Ich habe den Prozess aus Gründen des Selbstschutzes nicht näher verfolgt und kenne die Aussagen der Täter nicht. Doch bestimmt gibts auch bei diesen Taten einen gesellschaftlichen Hintergrund, der Täter und Zeugen zu ihrem Verhalten befähigt hat. Mir kämen da drei Annahmen in den Sinn, die wohl leider immer noch vorhanden sind: 1. Dass der Körper der Frau verfügbares Fleisch und somit Ware ist, 2. Dass der Ehemann Eigentümer dieses Fleischs ist und es nutzen oder eben zu Markte tragen kann, und 3. Dass diese Transaktion, wenn sie stattfindet, Privatangelegenheit ist.

    Frankreich hat ja in der Zwischenzeit das Gebot der aktiven Zustimmung ins Strafrecht aufgenommen. Ein wichtiger Schritt, aber wiederum nur ein kleiner Teil dessen, was eigentlich nötig wäre.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!