Beiträge von Estandia

    Sara Gran – Come Closer


    "Noch einen Wimpernschlag zuvor schien Amandas Leben völlig in Ordnung: ein verlässlicher Ehemann, ein interessanter Job in einem Architekturbüro, ein schönes Loft in einer angesagten Gegend von New York City. Doch dann geschehen seltsame Dinge: In ihren Entwürfen tauchen obszöne Schmierereien auf. Amanda fühlt sich von einer Frau verfolgt. In ihrer Wohnung hört sie ein unerklärliches Pochen und Knarren, und sie verspürt auf einmal das dringende Bedürfnis, Menschen zu verletzen. Jemand scheint von Amanda Besitz zu ergreifen. Jemand, der stärker ist als sie - und sehr grausam ..."


    Thalias Beschreibung klingt reißerischer als ich es beschreiben würde, fasst die Sache aber trotzdem gut zusammen. Auf rund 200 Seiten begleitet man Amanda mit großen Schritten in den mentalen Abstieg. Anfangs passieren diverse kleine Dinge und hier und da kann Amanda sich ihre Fauxpas durchaus erklären und schönreden aber nach und nach wird alles in ihrem Leben irgendwie immer schlimmer. Erzählt aus Amandas Sicht in tagebuchähnlichen Zusammenfassungen ohne viel Schnickschnack gelingt es Sara Gran eine richtig unangenehme Atmosphäre zu schaffen, die Amanda förmlich zerreibt. Ich mochte vor allem die erste Hälfte, den Versuch herauszufinden, ob man wirklich besessen ist oder ob man sich alles einbildet und was für Dinge vor sich gehen, was sie bedeuten könnten und das aufkeimende Problem andere Menschen und Situationen nicht mehr einschätzen zu können... Der versierte Horror-Leser wird wahrscheinlich nach den ersten paar Seiten wissen "wohin die Reise geht". Ich fand es erfrischend böse :ugly: und ich mochte die Lore, die gegen Ende angeschnitten wird.


    Diskutierte Themen sind dämonische Besessenheit vs. Nervenzusammenbruch, unterdrückte weibliche Wut und Autonomie, Kontrolle, Identität und gesellschaftliche Erwartung, Isolation und unzuverlässiger Erzähler.

    Ricardo Romero – The President's Room


    "In einem namenlosen Vorort in einem ebenso namenlosen Land ist in jedem Haus ein Zimmer für den Präsidenten reserviert. Keiner weiß, wann oder warum es dazu kam. Das Zimmer wird sauber und ordentlich gehalten, niemand spricht darüber und niemand darf es benutzen. Es ist für den Präsidenten und für niemanden sonst. Aber was ist, wenn er nicht kommt? Und was, wenn er doch kommt? Im Laufe der Ereignisse wird der Leser im Unklaren darüber gelassen, was wirklich vor sich geht. So sehr, dass man sich zu fragen beginnt, ob man sogar dem Erzähler trauen kann... Das Zimmer des Präsidenten ist eine geheimnisvolle Geschichte, die auf dem Verdacht beruht, dass ein Haus niemals nur ein einziges Zuhause ist."


    Eine Novelle, erzählt aus der Sicht einen schüchternen Jungen, mit einem älteren und einem jüngeren Bruder, lebt er mit seinen Eltern in einem Haus, das die Außenwände mit anderen Häusern teilt und die Keller zugemauert sind. Der Junge ist vom Raum des Präsidenten fasziniert und zugleich verängstigt. Wenn er draussen vor dem Fenster auf den Lorbeerbraum klettert, kann er in den Raum hineinsehen, er kennt die Objekte darin und doch hat er diesen Raum noch nie betreten...


    Auf knapp 90 Seiten wird hier eine Reihe an Themen skizziert, die aber alle irgendwie Spoiler wären. Erzählt mit der Ich-Stimme eines Kindes, die Selbstreflexion, Fantasie, alltägliche Details und unausgesprochene Ängste miteinander verbindet, bewegt sich die Narrative irgendwo an der Grenze zwischen Realismus und Phantastik. Auch wenn ich es schnell weggelesen habe, werde ich sicher noch einige Tage drüber nachdenken.

    Helen Phillips – Hum


    "In einer Welt der nahen Zukunft, die durch den Klimawandel geschädigt und von intelligenten Robotern, den so genannten „Hums“, besiedelt ist, verliert May ihren Job an eine künstliche Intelligenz. In ihrer Verzweiflung, die Schulden ihrer Familie zu begleichen und ihre Zukunft für ein paar weitere Monate zu sichern, wird sie zum Versuchskaninchen in einem Experiment, das ihr Gesicht so verändert, dass es von der Videoüberwachung nicht erkannt werden kann. Auf der Suche nach Erholung von den jüngsten Entbehrungen und der Abhängigkeit ihrer Familie von ihren technischen Apparaten kauft May Eintrittskarten für ihre Familie, um drei Nächte im Botanischen Garten zu verbringen: ein seltenes grünes Refugium, in dem noch Wälder, Bäche und Tiere existieren. Doch als ihre Kinder bedroht werden, ist May gezwungen, ihr Vertrauen in einen Hum mit unklaren Motiven zu setzen, um ihre Familie zu retten. – Geschrieben mit „Präzision, Einsicht, Sensibilität und Mitgefühl“, ist Hum ein „beeindruckendes neues Werk dystopischer Fiktion“, das sich mit der Komplexität von Ehe, Mutterschaft und Selbstsein in einer Welt auseinandersetzt, die durch die globale Erwärmung und den schwindelerregenden technologischen Fortschritt gefährdet ist - eine Welt mit sowohl dystopischen als auch utopischen Möglichkeiten."


    Wiedermal passt hier Thalias Beschreibung wirklich gut. Ich habe Phillips' Vorgänger "The Need" zwar wesentlich besser gefunden, aber "Hum" hatte auch wieder viiiel von dieser Sensibilität einer Mutter, die sich um ihre Kinder sorgt und im Angesicht von Konflikten und Bedrohungen versucht nicht den Kopf zu verlieren. Die dystopische Welt war (fast zu) glaubwürdig, die wenigen Charaktere komplex und interessant. Dennoch ist dies ein sehr ruhiges Buch, in dem nur wenige Tage vergehen, ohne Eile, aber getragen von May's Stress und Ängsten um ihre Kinder.

    Alan Murrin – The Coast Road / dt. Coast Road


    "Herbst 1994. Die Bewohner des irischen Küstenstädtchens Ardglas beschäftigt nur ein Thema: Colette Crowley – Dichterin, Bohemienne, die Frau, die ihre Familie verlassen hat, um in Dublin ihr Glück zu finden – ist zurück und wohnt in einem kleinen Cottage an der Coast Road. Jeder ihrer Schritte wird von der Gemeinde argwöhnisch beäugt. Hat sie es verdient, dass ihr Mann ihr den Zugang zu den Kindern verwehrt? In ihrer Verzweiflung bittet Colette eine Bekannte um Hilfe, Izzy Keaveney, Hausfrau und Mutter, unglücklich verheiratet mit einem Lokalpolitiker, der sich ausgerechnet für die Legalisierung der Scheidung im Land einsetzt. Und so entsteht zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Frauen eine Bindung, die ihre Leben in ungeahnte Bahnen lenkt.
    In schnörkelloser Prosa, mit psychologischem Feingefühl und großartiger Beobachtungsgabe erzählt Alan Murrin von den gesellschaftlichen Einschränkungen, die Frauenleben in Irland vor gerade einmal dreißig Jahren bestimmten – kurz bevor Scheidung in einem Referendum mit knapper Mehrheit legalisiert wurde – und beleuchtet dabei subtil, was Frauen überall auf der Welt auch heute noch davon abhält, ihre Partner zu verlassen."


    Thalias Beschreibung passt ganz gut. Ein Mikrokosmos an ausgesuchten Charakteren, jeder glaubwürdig und vielschichtig, auf ein Ereignis hinsteuernd, das auf der ersten Seite anskizziert wird. Ich fand es großartig! Hauptthemen sind: Patriarchat und rechtliche Zwänge, Freundschaft und Solidarität, Gerüchte, Überwachung und Druck der Gemeinschaft, Individuelle Freiheit vs. Tradition, Tragödie und moralische Verantwortung.

    Hollie McNish – Lobster (and other things I'm learning to love)


    ChatGPT hat mir eine gute Vorlage für meine Zusammenfassung dieses sehr komplexen und wertvollen Buches gegeben :nerd_face:

    Ich fand es großartig!


    "Lobster ist eine lebendige Mischung aus Poesie und intimer, tagebuchartiger Prosa, die sich mit den Komplexitäten des modernen Lebens auseinandersetzt – vor allem mit unseren Gefühlen von Scham, Begehren und Verbundenheit. Das Buch entfaltet sich in sieben thematischen Abschnitten, die jeweils Gedichte und kurze Prosa-Essays in McNishs gesprächigem, offenem Stil miteinander verweben. Die Teile umfassen:


    1. Der Körper

    Eröffnet mit Fragen rund um Körperpositivität und den gesellschaftlichen Druck, unsere Körper zu hassen oder zu „verbessern“. Eine Mischung aus kühner Poesie und reflektierenden Essays, die sich mit Diätkultur, Selbstkritik und performativer Selbstliebe auseinandersetzen. Betont, dass „dein Körper nichts falsch gemacht hat - hör auf, ihn zu beschimpfen“ und kritisiert gleichzeitig toxische Positivität und unrealistische Botschaften zur Selbstfürsorge.


    2. Menschen / Mutterland

    Erforscht Identität, Erbe und die Spannung, sich „fremd“ oder vertrieben zu fühlen - insbesondere als Schottin, die in England lebt. Enthält introspektive Gedichte über Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Familienbande. McNish erzählt Anekdoten aus ihrer Jugend - wie die Unbeholfenheit an der Universität - und reflektiert über den Umgang mit Klasse, Nationalität und Freundschaften.


    3. Wörter

    Eine eindringliche Kritik an der Sprachvermeidung im Zusammenhang mit der weiblichen Anatomie und daran, wie Euphemismen das Stigma aufrechterhalten. Es wird hervorgehoben, warum das Erlernen der korrekten Begriffe ein Akt der Rückgewinnung des Selbst ist, ebenso wie Kinder mehr Sicherheit vor Missbrauch erfahren können, wenn sie ihre Körperteile korrekt beschreiben können und keine Scham empfinden, wenn sie einen Übergriff erlebt haben.


    4. Oralsex

    Ein offener, humorvoller und unverblümter Abschnitt, der sexuelle Doppelmoral und Missverständnisse unter Teenagern anspricht. Verwendet Poesie, um gängige Geschlechterrollen auf dem Schulhof zu untergraben (z. B. durch die Umkehrung von Stereotypen wie „wenn Mädchen Jungen wären...“). Dient sowohl als Feier des Vergnügens als auch als Entlarvung von Scham und Tabuisierung der weiblichen Sexualität.


    5. Menschen / #NichtAlle (Angst der Frauen vor Männern)
    Befasst sich mit den vererbten Ängsten der Frauen - von den Warnungen der Großmütter vor dem Krieg bis hin zu den Ratschlägen der Eltern über Vergewaltigungsdrogen. Passagen über die Sicherheitsvorkehrungen, die Frauen treffen müssen, wenn sie nachts ausgehen wollen, wie sollen sich Frauen geben, wie sollen sie sein, was müssen sie zun, damit sie nicht Übergriffe von Männern erleben und was haben sie falsch gemacht, wenn sie sie doch erleben.


    6. Freude

    Behandelt sowohl die unerwarteten Realitäten der Erziehung eines Teenagers als auch die emotionale Beschaffenheit von Freundschaften unter Erwachsenen. Häusliche Intimitäten wie gemeinsames Lesen, Trauer in privaten Räumen und Verletzlichkeit in der Lebensmitte werden gefeiert.


    7. Anfänge

    Das Buch schließt mit Gedichten und Überlegungen zur Wiedergewinnung der Freude: erste Male, spielerisches Altern und fortlaufende Selbstentdeckung. Es hinterlässt den Leser mit Wärme, der Ermutigung, das Lachen zu finden, und der Erlaubnis, dem Vergnügen schamlos nachzugehen.


    McNishs Stil ist eine Mischung aus bodenständigem Realismus, Wut, scharfem Witz und Wärme. Lobster ist eine mehrteilige Sammlung mit konzentrierten thematischen Kapiteln. Eine Mischung aus Poesie und persönlichen Essays, verwurzelt in der Tradition des gesprochenen Wortes. Eine provokante Erkundung der Frage, warum wir lernen, uns selbst, unsere Körper und Freuden zu hassen - und wie wir es vielleicht wieder verlernen. Ein Fest des Lachens, des Sex, der Freundschaft, der Familienbande und der alltäglichen Existenz, unterstrichen durch ehrliche Kritik und Verletzlichkeit. Es ist ideal für Leser, die offenes, gefühlsbetontes Schreiben mögen - scharf in der Kritik und großzügig im Mitgefühl."