Beiträge von Estandia

    Mit Ehemann und den zwei Kindern in einem schicken AirBnB-Ferienhäuschen irgendwo auf Long Island in tiefster Einöde. Keine Nachbarn und der nächste Supermarkt weit weit weg. Bestes Wetter, bester Pool im Garten, bestes Ferienfeeling.... und natürlich gaaanz schlechter Handyempfang ...

    Laura Purcell – The Corset / Das Korsett


    "Als ihre gemeinnützige Arbeit Dorothea Truelove zum Oakgate-Gefängnis führt, freut sie sich über die Gelegenheit, die Theorie der Phrenologie zu erforschen. Kann die Form des Schädels eines Menschen ein Licht auf seine dunkelsten Wesenszüge werfen? Doch als Dorothea die junge Schneiderin Ruth Butterham trifft, stellt sie sich ganz andere Fragen: Ist es möglich, mit Nadel und Faden zu töten? Denn Ruth schreibt ihre Verbrechen einer übernatürlichen Kraft zu, die ihren Stichen innewohnt. Die Geschichte, die sie über ihre tödlichen Kreationen zu erzählen hat – von Bitterkeit und Verrat, von Tod und Kleidern – wird Dorotheas Glauben an die Wissenschaft erschüttern. Ist Ruth verrückt? Nur ein Opfer? Oder eine eiskalte Mörderin?"


    Ein knackiger, fieser historischer Gothic-Thriller, der im viktorianischen England spielt. Die Geschichte wird abwechselnd von zwei Frauen erzählt: Ruth Butterham, eine 16-jährige Näherin, die wegen Mordes inhaftiert ist, und Dorothea Truelove, eine wohlhabende junge Frau, die im Rahmen ihrer Wohltätigkeitsarbeit Gefangene besucht. Ruth behauptet, dass ihre Näharbeiten übernatürliche Kräfte haben - insbesondere, dass die von ihr genähten Kleidungsstücke, vor allem Korsetts, denjenigen, die sie tragen, Schaden zufügen oder sogar zum Tod führen können. Dorothea, die sich für Phrenologie und die Erforschung krimineller Seelen interessiert, steht Ruths Behauptungen zunächst skeptisch gegenüber, wird aber zunehmend in ihre dunkle Geschichte hineingezogen.


    Ruth's Geschichte ist von Anfang bis Ende nicht ohne und steht in starkem Kontrast zu Dorotheas Welt, hieran werden vor allem die Themen Armut und Reichtum, der Klassenunterschied und das Rechtssystem erforscht. Ruth steht stellvertretend für die armen, minderjährigen, billigen Arbeitskräfte jener Zeit, die fortwährend Ausbeutung erfahren. Dorothea lebt ebenso in einer rigiden Welt mit festen sozialen Regeln, ihr Vater kontrolliert alles und dann ist da auch noch das Thema mit der mysteriös verstorbenen Mutter... Den übernatürlichen Aspekt der Geschichte mochte ich sehr, ab der Hälfte nimmt das Buch Fahrt auf und das Ende kam mit einigen Twists. Ich fand das Korsett im Tempo und Geschichte noch ein bisschen besser als Die stillen Gefährten, wobei letzteres aber wesentlich atmosphärischer ist.

    Kanae Minato – Confessions / Geständnisse


    Yuko Moriguchi ist alleinerziehende Mutter und Lehrerin an einer japanischen Mittelschule. Als die Umstände es nicht mehr anders zulassen, bringt sie einmal in der Woche ihre vierjährige Tochter mit in die Schule. Einige Schüler nehmen sich der kleinen Manami an, während Yuko an diesen Tagen einer regelmäßigen Lehrerkonferenz beiwohnen muss. Doch wenige Wochen später Manami stirbt auf dem Schulgelände, sie ertrinkt im Pool, weil sie im Bereich der Schwimmhalle den Hund der Nachbarn durch den Zaun füttern wollte. Ein tragischer Unfall, sagt die Polizei. Yuko jedoch, nachdem sich ihre Trauer in Wut gewandelt hat, sinnt auf Rache. Denn ihre Tochter wurde ermordet – von zwei Schülern in ihrer Klasse. Und jetzt ist der Tag, an dem sie gestehen wird, dass sie weiß wer und auch was diesen Schülern blüht.


    Huiuiui, ein bitterböses Buch, um Rache, Schuld, Trauma, die Folgen von Vernachlässigung und moralische Korruption. Schon sehr spezifisch für die japanische Kultur, dessen Schulsystem und die garstigen Dynamiken zwischen Schülern/Lehrern/Eltern. Das Buch hat 6 Kapitel und jedes beleuchtet Manami's Tod, wie es dazu kam und was danach geschah, aus der Sicht von Personen, die mehr der minder involviert waren und mit ihrem Tun oder ihrer Unterlassung die Katastrophe in Gang gesetzt haben. Yuko eröffnet und schließ das Tribunal, das Ende fühlt sich nach Genugtuung an, wenn auch moralisch total verwerflich.

    Jodi Picoult – The Book of Two Ways / Umwege des Lebens


    Dawn Edelstein befindet sich mitten auf dem Heimflug zu ihrem Mann und ihrer Tochter, als das Bordpersonal Sicherheitsmaßnahmen einleitet, die Passagiere anweist sich anzuschnallen und auf eine Bruchlandung vorzubereiten. Dawn überlebt die Katastrophe, in den furchtbarsten Momenten ihrer größten Angst jedoch denkt sie nicht an ihren Mann und ihre Tochter, sondern an den Menschen, den sie 15 Jahre zuvor verlassen musste. Archäologe Wyatt Armstrong, der immer noch in Ägypten Ausgrabungen leitet und mit dem sie eine intensive Vergangenheit verbindet. Dawn muss sich am Absturzort entscheiden, ob sie nach Boston zu ihrer Familie oder nach Kairo fliegt. Dawn stellt sich die Frage, was wäre gewesen wenn. Wer wäre sie heute, hätte sie sich vor 15 Jahren anders entschieden...


    Grundsätzlich arbeitet das Buch mit zwei Zeitebenen, ähnlich dem altägyptischen "Zweiwegebuch ins Jenseits", das die zentrale Metapher für die Geschichte darstellt. Der Wasserweg (Boston) beschreibt Dawns jetziges Leben als Sterbebegleiterin mit Ehemann Brian und Tochter Meret, der Landweg (Ägypten) beschreibt Dawns Rückkehr zu Wyatt und den Ausgrabungsstätten, an denen sie einst zu Studienzeiten mit ihm als Mentor "Das Buch der zwei Wege" studiert hat. Eingewoben darin Erinnerungen an die Vergangenheit sowie eine fortschreitende Sterbebegleitung einer ihrer Patientinnen. Am Ende "fließt alle Zeit (mit allen Enthüllungen) zusammen" und Dawn muss sich entscheiden, wer sie ist und wer sie sein will.


    Die großen Themen des Buches sind Wahlmöglichkeiten und alternative Leben, Leben, Tod und Sterblichkeit, Das Leben nach dem Tod, Bedauern und die nicht eingeschlagenen Wege, Liebe und Beziehungen, Identität und Selbstentdeckung. (Content Warning ist glaube ganz sinnvoll, es geht wirklich viel um den Tod, in all seinen Facetten und aus allen Perspektiven, Dawn's Arbeit als Sterbebegleitung kann einem ganz schön in die Nieren gehen)


    Der Schreibstil (der englischen Version) ist fantastisch, herzzerreißend, traurig, tiefgründig, melancholisch, bisweilen leichtherzig und lustig, immer sehr dicht bei den Charakteren, nie unglaubwürdig oder überzogen und generell tief geerdet. Ich mochte beide Erzählstränge gleich gern, die schiere, fassbare Komplexität von Dawns Beziehungen mit ihrem Mann und ihrer Teenager-Tochter sowie ihrem Bruder Kieran sind spannend und nachvollziehbar, die Narrative in und um Ägypten, die Ausgrabungen, das heiße Land, die Menschen, Wyatt, die Sarkophage und Mumien, sind dank perfekter "Show, don't tell"-Manier problemlos vorstellbar.

    Elif Shafak – 10 minutes 38 seconds in this strange world / dt. Unerhörte Stimmen


    "Für Leila rufen die letzten 10 Minuten und 38 Sekunden nach ihrem Tod viele sinnliche Erinnerungen wach: gewürzter Ziegeneintopf, den ihr Vater opferte, um die Geburt des ersehnten Sohnes zu feiern; sprudelnde Bottiche mit Zitrone und Zucker, um die Beine der Frauen zu wachsen, während die Männer beim Gebet sind; der Kardamomkaffee, den sie mit einem gut aussehenden Studenten in dem Bordell teilt, in dem sie arbeitet. Jede verblassende Erinnerung bringt die Freunde zurück, die sie in ihrem bittersüßen Leben gefunden hat - Freunde, die jetzt verzweifelt versuchen, sie zu finden.... "


    Der erste Teil des Buches dreht sich um Leilas letzte Minuten in ihrem Leben, wie sie versteht, dass sie ermordet wurde und wo sie sich befindet, ebenso wohnt sie noch der Unterhaltung von einigen Jugendlichen bei, die sie auf der Straße liegend finden und ihre teuer aussehende Halskette klauen. Dann laufen sie davon, denn sie sehen genau was Leila ist, eine Frau, eine Sexarbeiterin, und nichts wert. Leilas Erinnerungen an ihre Kindheit sind geprägt von Trauer, Wut, Schmerz, Verzweiflung, Angst, später im Leben von wahrer Liebe und tiefer Freundschaft. Der zweite Teil der Geschichte dreht sich um Leilas Freundeskreis bestehend aus fünf Individuen, die wie Leila ausgestoßen am Rande der Gesellschaft leben, und zusammen versuchen Leila einen letzten Freundschaftsdienst zu erweisen.


    Kein ganz einfaches Buch durch die teils schweren Themen, einige Ereignisse und Orte sind real und machen das Ganze noch ein bisschen schlimmer als reine Fiktion. Auf der anderen Seite feiert das Buch die Türkei, die Sprache, die Familie, die Freunde, das Essen, den Glauben, Istanbul als kontrastreichen Schmelztiegel, wo alle zusammenkommen und versuchen das Beste aus ihrem Leben zu machen. Manche in der Mitte, manche am Rand.