Mein Hund kennt keine Grenzen und hat starke Verlustängste

  • Hallo,


    seit etwa zwei Wochen lebt ein junger Tierschutzhund (Rüde) aus Spanien bei uns. Er ist 12 Monate alt, kastriert und ein Duck Tolling Retriever.

    Er ist super umgänglich mit allen Vierbeinern und Zweibeiner sind sowieso sein größtes Glück. Seine Vorgeschichte ist nicht bekannt, nur dass er mit ca 6 Monaten ausgesetzt worden ist. Ich hatte in der Vergangenheit schon Hunde aus dem Tierschutz mit denen man super arbeiten konnte, habe also was Training angeht schon etwas Erfahrung, aber mein jetziger Rüde raubt mir leider jeden Nerv.


    Das Hauptproblem ist, dass er mir auf Schritt und Tritt folgt und nie zur Ruhe kommt. Wenn ich mich setze, legt er sich sofort hin und macht die Augen zu aber wenn ich mich nur einen Zentimeter bewege oder einen Mucks von mir gebe, schreckt er sofort auf und schaut was ich mache. Egal wo ich bin, er klebt mir wortwörtlich an den Beinen. Dadurch kommt er auch nie tagsüber zur Ruhe, nachts schläft er allerdings in der Regel durch. Ich habe von Anfang an versucht ihn schrittweise ans Alleinsein zu gewöhnen, aber er wimmert und jault sobald ich nicht in Sichtweite bin (gebellt hat er bisher in noch keiner Situation). Er ist selten länger als 2-3h alleine da immer jemand hier ist und ich die meiste Zeit von Zuhause arbeite. Er verweigert auch strikt seinen Ruheplatz im Wohnzimmer, ich kann ihn dort also nicht hinschicken damit er mal runterkommt. Auch akzeptiert er keine Grenzen oder ein klares "Nein" oder "Aus". Er sieht jede Geste oder klare Ansage als Einladung zum spielen und das schaukelt seine Aufregung nur weiter nach oben. Er ist völlig resistent gegen jeden Versuch ihm klarzumachen was er darf und was nicht.


    Das andere Problem ist, dass grundsätzlich seine Aufmerksamkeit mir gegenüber fehlt, sobald wir das Haus verlassen. Zuhause funktionieren die Grundkommandos schon einigermaßen gut, aber sobald wir über die Türschwelle sind, ist er nurnoch am schnüffel und zieht extrem an der Leine. Selbst seine Lieblingsleckerlis oder Spieltau verweigert er dann komplett, er ist im Tunnel und nichtmehr ansprechbar. Das macht es sehr schwer für mich draußen Basics wie Leinenführigkeit etc. zu trainieren weil die Grundaufmerksamkeit einfach nicht da ist. Ich würde ihn auch gerne geistig mehr auslasten und mit ihm apportieren oder Suchspiele machen, aber draußen ist die Aufregung so groß dass das für ihn völlig uninteressant ist. Mir bleibt momentan nur, ihn körperlich so gut es geht auszulasten, danach kommt er Zuhause auch erstmal etwas zur Ruhe und schläft, aber das ist nicht von langer Dauer.


    Was sonst noch auffällig ist:

    - Er schleckt extrem viel, alle Gegenstände oder Menschen die ihm in den Weg kommen werden ausgiebig beschleckt. Auch nuckelt er fast wie ein Säugling gerne an Händen und Unterarmen.


    - Er hat einen starken Kautrieb, seine Spielzeuge zerlegt er in kürzester Zeit in alle Einzelteile und seit kurzem erwische ich ihn immer wieder dabei wie er an Möbeln kaut.


    - Er springt viel an Menschen hoch. Ihn wegzuschieben sieht er wieder als Einladung zum Spiel, gerade versuchen wir es einfach mit ignorieren bis er aufhört.



    Er ist völlig anders als alle Hunde die ich davor hatte und alles was sonst gut funktioniert, klappt bei ihm so garnicht. Ich weiß momentan wirklich nicht was ich noch ausprobieren kann. Hat jemand ähnliche Erfahrungen gemacht und weiß eventuell Rat? Muss man noch abwarten, bis er sich an sein neues Leben gewöhnt hat oder sollte ich schon jetzt die Hilfe eines Profis in Anspruch nehmen?


    Viele Grüße

  • All das sind Anzeichen von Stress(abbau) und Überforderung.

    Ich denke, du musst ALLES viel langsamer angehen lassen und weniger von ihm verlangen. Auch das Auslasten verträgt der noch nicht, der steht momentan unter Dauerstress.

  • Ich hab ja nun selbst keinen eigenen Hund, sondern mein ,,Wissen'' hauptsächlich hier im Forum erworben. Mein Eindruck ist allerdings, dass du ganz schön viel von dem Kerl erwartest. Seit 2 Wochen bei dir, dazu vermutlich mitten in der Pubertät - und er muss schon alleine bleiben, Kommandos lernen usw... Klingt für mich nach etwas viel Programm.

  • Er hat von Anfang an einen sehr selbstsicheren und coolen Eindruck gemacht, deshalb dachte ich dass man ihn schon ein wenig ans Training heranführen kann. Das mit dem Stress macht Sinn, vermutlich hatten wir zu große Erwartungen an ihn.. Wir werden mit ihm jetzt erstmal einen Gang runter schalten.

  • Ich finde du solltest die Erwartungen runter schrauben und dir bewusst machen, dass du einen Hund einer sehr reizoffenen Rasse zu Hause sitzen hast. Dein Hund ist massiv gestresst und muss seine neue Umgebung erst noch kennenlernen. Dazu kommt, dass die meisten Toller wirklich aktiv Ruhe lernen müssen, das ist deine Verantwortung als Halter. Toller können von alleine sehr schnell hochdrehen, ich würde spielen (insbesondere mit Bällen) komplett lassen, den Hund draußen zum Lösen bringen und dann wieder rein. Für Grundkommandos habt ihr noch eine Menge Zeit, gerade zählt dass der Hund sich gut einleben kann. Spiel oder so braucht er nicht, aktuell dreht ihn das nur weiter hoch und sorgt dafür, dass er sich schlechter konzentrieren kann. Lass deinen Hund ankommen und freu dich über jeden Moment der Ruhe, zwing ihn nicht auf einen bestimmten Platz und hock dich einfach entspannt aufs Sofa und lies ein Buch oder so. Die meisten Hunde kommen schnell runter, wenn um sie herum einfach gar nicht passiert.


    Natürlich brauchen Toller geistige Auslastung (sind eben Jagdgebrauchshunde), aber aktuell ist deiner noch völlig mit der neuen Situation beschäftigt.


    Ich würde außerdem eher vermutlich, dass du einen Mix hast, der einem Toller ähnlich sieht, die Rasse ist im Tierschutz nicht wirklich vertreten. Trotzdem würde ich ihn nicht überfodern und mir klar machen, dass er nicht wirklich etwas kennt. Es gibt viele Mixe, die Tollern sehr, sehr ähnlich sehen, daher mein Einwurf.


    Und bitte lass das Hundetier nicht alleine, bis du es gut aufgebaut hast. Toller sind zwar keine Kläffer, aber gerne vokale Hunde. Ganz abgesehen von Stress und Verlustängsten beim Hund kann das schnell Stress mit den Nachbarn geben.


    Und weil ich tollerverrückt bin, würde ich mich sehr freuen wenn du uns ein Bild deines neuen Mitbewohners zeigen magst :)

  • Ich schätze mal das war alles fassade. Ist der erste Putz mal runtergeklopft hast du einen ganz anderen Hund vor dir - nichts mit Nervenstärke, sondern ein Hund der dich anbettelt ihm zu helfen.


    Es wäre kein Wunder wenn der Hund, gerade bei Retriever ist ja die Menschbindung eine ganz eine andere, Trauma, Deprivation, oder sonstige psychische Störungen durch seinen "Heimaufenthalt" abbekommen hätte.


    Meiner (etwa gleichlange im Zwinger) - brauchte etwa 4 Monate um wieder eine richtige Bindung einzugehen zu Menschen (wobei er diese sehr starke Bindung nur zu mir hat, Kinder liebt er, Mann liebt er - aber mich würde er genauso verfolgen wie von dir beschrieben, wenn ich ihm nicht ständig einimpfe "ich bin da, ich bleibe da, ich gehe nicht weg. Gehe ich weg - sage ich es dir und komme auch gleich wieder".)


    Habe meinen seine fehlende Kindheit "nachholen" lassen. Dh. er darf nuckeln, schlecken, alles ins Maul stopfen und absaugen. Der Mundtastsinn funktioniert und beruhigt - also was soll daran so schlecht sein. Man muss halt schauen, dass er keine Kieselsteine, Murmeln, Glaskugeln oder anderes gefährliches ablutscht und durchknatscht. Wobei meiner ehrlich gesagt - ein "Bewegungslegasteniker" ist - der kann sich selbst und seine grösse überhaupt nicht einschätzen (habe einen anderen Faden dazu aufgemacht).

  • 5 Gänge zurück?

    Kam er aus Spanien direkt zur dir? Hat er in Spanien schon auf einer Pflegestelle gewohnt sprich kennt er das Leben im Haus? Hat er in Spanien in einem Zwinger gelebt dann kennt er sowas wie Spaziergänge auch nicht. Wie aufregend ist das bitte, dass das Leben nicht nur aus 10 qm und ab und zu vielleicht ein bisschen Hof besteht?


    Marley ist uns anfangs auch auf Schritt und Tritt nach einfach weil er in einer völlig fremden Umgebung ohne Geschwister und Mutter plötzlich ins kalte Wasser geworfen worden ist. Das einzige an dem er sich orientieren konnte waren wir. Ich habe ihm Wochen gelassen. Habe mich regelmäßig tagsüber einfach mal mit ihm gemeinsam hingelegt damit er zur Ruhe kommt. Irgendwann wenn ich langsam aufgestanden bin ging der Kopf hoch aber ein ruhiges "Alles gut, liegen bleiben" hat gelangt damit er weiß es geht niemand ich wechsle nur den Raum. Ich finde du verlangst wirklich viel auch, dass er so schnell mehrere Stunden daheim bleiben soll. Fang das erstmal ganz klein mit Raumwechseln und Tür hinter dir zu machen an. Nur für ein paar Sekunden dann wieder raus. Gaaaaanz viel Ruhe rein bringen. Die ersten Wochen haben eigentlich nur aus Schlafen und verarbeiten bestanden dazwischen 20 Minuten Runden Gassi am Wochenende auch mal 40 min danach war aber den restlichen Tag nichts mehr mit ihm anzufangen.


    Woher soll er wissen wenn er euch anspringt und ihr ihn weg schiebt was das zu heißen hat. Bei uns hilft rumdrehen und einfach weiter das machen was du gerade machen wolltest und erst wenn die vier Pfoten auf dem Boden bleiben begrüße ich ihn. Woher soll er wissen was "Aus" oder "nein" heißt. hast du das mit ihm trainiert? kann er überhaupt wissen was du von ihm willst nach 2 Wochen?

  • Ich würde ihn auch gerne geistig mehr auslasten und mit ihm apportieren oder Suchspiele machen, aber draußen ist die Aufregung so groß dass das für ihn völlig uninteressant ist.

    Der Hund ist momentan nicht nur ausgelastet, sondern überlastet! Alles was er braucht sind ganz sicher nicht noch mehr Anforderungen ans Gehirn. Ich würde ein komplettes Sparprogramm machen, so viel Ruhe wie möglich gönnen. Er ist total drüber, reizüberflutet.Möglicherweise hat er eine PTBS (posttraumatische Belastungsstörung). Solche Hunde (Menschen auch) können sehr schwer abschalten. Je jünger sie waren bei dem Ereignis, umso schwieriger, da während des Heranwachsens die Selbstregulation gebildet wird, was durch Trauma behindert wird. Du musst ihm helfen dabei. Wenn ich überhaupt was trainieren würde, dann "Bleib". Das kannst du Zuhause machen, dadurch ist es leichter für ihn, weil er nicht noch die Außenreize hat. Ist mMn ein wichtiges Kommando, damit du ihn zum runterfahren irgendwo ablegen kannst. Ruheplatz kann man mit Markertraining aufbauen.

    Er hat von Anfang an einen sehr selbstsicheren und coolen Eindruck gemacht, deshalb dachte ich dass man ihn schon ein wenig ans Training heranführen kann.

    Hat damit nichts zu tun. Man kann vom Typ her selbstsicher und cool sein und dennoch traumatisiert und gestresst. Habe genau so ein Exemplar hier. Ich wünschte, ich hätte nur ein halb so großes Selbstbewusstsein wie mein Hund! Dennoch ist er traumatisiert und dadurch sehr stresssensibel. Bei unserem ersten gemeinsamen Umzug hat er genau so reagiert wie du es beschreibst. Auf Schritt und Tritt an mir geklebt. Sobald ich mich hingesetzt habe, lag er neben mir und die Äuglein fielen zu, weil er einfach fix und foxy war.

    2 Wochen ist wirklich keine lange Zeit!

  • Meine Güte, was erwartest du von einem Auslandshund nach 2 ! Wochen.


    Wenn du in einem Jahr noch diese "Probleme" hast, kann man darüber reden, aber derzeit ist das einzige Problem deine Ungeduld

  • Er ist ja noch ein "kleiner", lass ihn noch Zeit, sich da das Leben bei dir zu gewöhnen. Die Jugendzeit von so einem Hund ist so extrem wichtig und vor allem - er muss erst einmal lernen dir zu vertrauen, deinen Alltag kennenlernen und wissen wie so dein Tagesablauf ist. Deine Mimik lesen, wissen was du magst oder nicht. All das ist kein "Training" - sondern ganz einfach eine "Orientierungsphase" - die hat bei meinem so 4-5 Wochen gedauert, dann wusste er so in ungefähr, wie der Tagesablauf ist, wann er die Möglichkeit hat zu Schlafen zu entspannen, und wann es Zeit ist - mal richtig die Sau rauszulassen.


    Dass meiner zum ersten mal, beim Spaziergang mal was gefressen hat (Leckerli aus der Hand) hat gut 6-8Wochen gedauert, bis dahin war er "stresstechnisch komplett ausgeklinkt", er ist mitgegangen - aber seine Umwelt hat er bis auf schnüffelphase und pinkeln kaum mitbekommen. auf andere Hunde war er höchstgradig agressiv - kannte er nicht und wollte eigentlich nur mal antesten wer der stärkste ist. Heute ist er schon fast ein Traumhund, abrufbar - verständnisvoll und sozial wirklich gut entwickelt, aber alles musste er selber erlernen, an sich herankommen lassen und akzeptieren.

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