Ist das "normal"? Schwierige Frage

  • Hallo,

    ich habe hier schon öfter von unserem Lou geschrieben. Wir haben ihn aus dem Tierschutz, jetzt gut 1,5 Jahre. Davor war er bei jemandem, der ihn den ganzen Tag, bis zu 12 Stunden allein ließ und dann nur ein Erleichtern auf dem Hof erlaubte - man konnte ihn ja nicht halten.

    Lou hatte große Angst und war sehr unsicher, als er zu uns kam. Er zeigte das, in dem er nach vorn ging, bellte, zerrte. Das haben wir alles wirklich gut im Griff.
    Die andere "Baustelle", die wir hatten, war Lous Kondition und Muskeln. In den ersten Wochen waren 10 Minuten Spaziergang schon zuviel - mental wie physisch.

    Mittlerweile läuft er - in bekanntem Gebiet - eine dreiviertel Stunde, auch mit Freilauf, Eichhörnchen auf den Baum jagen und mit anderen Hunden spielen. Aber das war es dann auch. Danach ist er den ganzen Tag völlig fertig. Passiert unterwegs etwas ungewöhnliches, oder ist bei uns was los (z.B. ein Handwerker kommt), erschöpft ihn das noch mehr.

    Nach der Hundeschule, die wir eine Zeit lang besuchten, brauchte er immer zwei Tage Ruhe mit wenig Stress.
    Trainieren von z.B. Leinenführigkeit oder ähnlichem (da hapert es immer noch) bedeutet, den Spaiergang auf höchstens eine halbe Stunde reduzieren zu müssen.

    Er liegt dann zu Hause, rührt sich kaum, zur Pipirunde in den Garten geht er nur nach Überreden mit (er meldet sich auch nicht!) und ansonsten schläft er. Ab und zu können wir ihn nachmittags zu kleinen Such- oder Apportierspielchen animieren - aber mehr als eine viertel Stunde ist nicht drin.

    Lou ist erst unser zweiter Hund, vorher hatten wir eine alte Huskyhündin aufgenommen, die schon 11 war, als wir sie holten, und die 14 wurde. Selbst die war lebhafter!
    Klar ich weiß, Lou hat nur "Ruhe" gelernt, aber trotzdem weiß ich nicht, ob das normal ist.

    Nach der letzten TA Untersuchung ist soweit alles okay, er hat leichte HD, die ihn aber (angeblich?) - nicht behindert.

    Ich weiß, es ist schwer eine Ferndagnose zu treffen, aber denkt ihr, das ist "normal"? Kann ich mehr an seiner Kondition arbeiten - oder bin ich wieder mal zu ungeduldig? Ach so, Lou ist jetzt 6, eine Schäferhund-Labrador- Husky - Mix.

    Danke schon mal fürs Lesen!

  • Hallo!

    Ich glaube, es liegt nicht an der fehlenden Kondition, daß der Hund so reagiert.
    So, wie Du es beschreibst, scheint er schon irgendwie in der Lage zu sein, etwas mehr zu "leisten", was das Körperliche betrifft.


    Er scheint eher "Probleme" damit zu haben, neue Eindrücke "richtig" zu verarbeiten.
    Wenn er zuvor wenig bis gar nichts kennen gelernt haben sollte, könnte das hinkommen.
    Da fehlen irgendwelche Verknüpfungen, die alles entsprechend weiter leiten und das Erlebte quasi in den passenden Schubladen steckt.
    Jetzt braucht der Körper wohl etwas länger, um diese Art von Verbindungen im Gehirn aufbauen zu können.

    Dann ist klar, daß eine, ich nenne es mal Veränderung, den Hund etwas "erschöpft", und er deshalb wieder eine etwas längere Ruhephase braucht, um eben das Neue irgendwie richtig verarbeiten zu können.


    Schöne Grüße noch
    SheltiePower

  • Du schreibst Dinge auf, die ich von meinem Hund auch kenne.

    Ich denke für ihn ist das normal und ich würde auch zusehen, dass er weiterhin die Ruhe bekommt die er braucht. Es ist eigentlich gut, dass er das "ausschlafen" kann.
    Allerdings kann Dauerstress eben auch Nebenwirkungen haben, die mir Sorgen bereiten würden.

    Was ich vielleicht abklären würde, wäre die Schilddrüsenwerte.
    Enki hat eine subklinische Unterfunktion, also eigentlich Werte im Normalbereich, aber aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten (Dauerstress, Angst und Panik vor allem und jedem etc.) haben wir uns dazu entschieden ihm Hormone zu geben.
    Ich gebe ihm nun seit knapp 3 Monaten welche und meine, dass er kürzere Zeit benötigt, um Eindrücke zu verarbeiten, also das er schneller sich von stressigen Unternehmungen erholt (für ihn sind alle Außenreize Streß).
    Sonst hat sich auch einiges verändert, aber das gehört ja nicht hierher.

    Evtl. macht es Sinn euren Hund mal bei einem Tierarzt der auf Verhaltenstherapie spezialisiert ist vorzustellen, evtl. kann man ihn mit ganzheitlicher Behandlung (Medikamentengabe und Verhaltenstraining) helfen den Stresspegel zu reduzieren. Da solltet ihr euch auch beraten lassen, ob die Schilddrüse evtl. ein Thema sein kann.

    Hier in der Gegend gibt es jemanden der sehr fähig ist, vielleicht kann man euch ja auch jemand empfehlen, ich weiß nur nicht wo du herkommst.

  • Die Schilddrüse wurde untersucht - da ist definitiv nichts. Die Werte sind vollkommen in Ordnung. Auch der Bewegungsapparat und die inneren Organe sind okay.
    Wenn er so ist, dann ist das so. Aber ich mölchte halt, dass er sich so wohl fühlt, wie es ihm möglich ist...

  • Vielen Dank erstmal. Deprivationssyndrom habe ich jetzt mal gegoogelt, ist soetwas wie Hospitalismus, nicht? Da gibt es hier doch bestimmt Leute, die Erfahrung damit haben und sich mit mir austauschen möchten, oder? Was macht ihr für und mit Euren Hunden, wie geht ihr mit deren Stress um, bekommen sie Medikamente, schont ihr oder fordert ihr?

  • Hallo Ribanna
    Ich habe eine kleine Deprivatin zuhause. Wobei Deprivation ja ein Überbegriff ist der viele Verhaltensformen auslösen kann. Eigendlich bedeutet er eine Art Lernschwäche. Der Hund ist sehr schnell reizüberflutet und dann oft nicht mehr in der lage die Reize so zu verarbeiten, dass eine Gewöhnung statt findet. Er wirkt also in der selben Situation deutlich länger aufgeregt als ein "normaler" Hund. Zudem ist ein Deprivat oft sehr schlecht im Generalisieren. Während andere Hunde beim 10. Auto z.B. denken: "Ach, auch schon gesehen, kein Problem." ist ein deprivierter Hund immer wieder aufs Neue aufgeregt, auch wenn er sich an ein Auto oder Autos an einem bestimmten Ort schon gewöhnt hat.
    Es ist nicht aussergewöhndlich in irgend einem Bereich eine Deprivation aufzuweisen. Meine Tierärztin (mit Schwerpunkt auf Verhalten) meinte einmal, man kann sich das so vorstellen, wie z.B. viele ältere Menschen eine Art Deprivation im Bezug auf Computer zeigen. Sie haben in jüngeren Jahren nie dem Umgang damit gelernt und sind jetz sehr schnell überfordert und unsicher. Das Beispiel hat mir gut gefallen, ich glaube Jeder kennt hier ein Beispiel. :D
    Die alteren Menschen können sich nun durchaus an Computer gewöhnen. Oft wird aber nie so eine Selbstverständlichkeit erreicht wie bei jüngeren Computernutzern und wenn etwas nicht wie gewohnt funktioniert sind sie schnell unsicher. Nun kommt es auch sehr auf das Individuum an, Einige tun sich schwerer, Andere leichter und für wieder Andere bleibt der PC schlicht ein rotes Tuch.
    Wichtig ist ausserdem, wie die Person die virtuelle Welt erlebt. Leitet sie jemand mit viel Geduld an? Muss sie schwierige Aufgaben erledigen, wird gefrustet und fühlt sich alleine und überfordert? Diese Erfahrung kann dazu führen dass ein Mensch negative Assoziationen mit dem Computer generell entwickelt und immer in Stress kommt, auch wenn Alles normal funktioniert.
    Das Gedankenspiel kann jeder durchspielen und so die menschliche Seite nachvollziehen. Nun ist der Hund natürlich kein Mensch, das darf nicht vergessen werden. Er kann sich nicht sagen: "Alles gut, ruhig Blut, es ist gar nicht schlimm." Er wird auf die überfordernde Situation mit Nervosität oder Angst reagieren. Sier kann ein Besitzer wahnsinnig viel Hilfe leisten, in dem er eine klare Führung signalisiert und so Orientierung bietet. Oft bedeutet das zu Anfang auch, einfach einen Weg aus der Situation zu bieten, um so Vertrauen zu schaffen. Hier muss imer abgewogen werden, ob der Hund noch lernbereit ist und vorallem ob die Situation positiv für den Hind endet. Nichts ist für viele Hunde verunsichernder als wenn der Besitzer sehenden Auges in eine Katastrophe läuft. Aberdas gilt ja für Angsthunde allgemein. ;)
    Nun zu meinen persöndlichen Erfahrungen. Elly ist jetz 2,5 Jahre alt. Ich habe ihre Geschichte in einigen Threads angesprochen, falls du sie nachlesen magst. Natürlich zeigt sich hier auch meine Entwicklung, sie ist mein erster Hund und ich habe vieles zu Beginn nicht oder falsch gesehen.
    Unser Tiefpunkt war vor etwa 1.5 Jahren, als sie im Frühling nicht mehr aus dem Badezimmer kommen oder fressen wollte. Damals begann ich nach Absprache mit besagter Tierärztin mit der Gabe von Clomicalm, ein leichtes Psychopharmaka, dass die Reizüberflutung etwas hinauszögern soll. Sie reagiert sehr gut darauf, ist nicht müder als sonst aber doch ausgeglichener. Im Training war es wichtig den Druck heraus zu nehmen, dass Alles möglich sein muss. Ich stehe dazu dass mein Hund grosse Mühe hat an fremden Orten wie z.B. Banhöfen oder zuerst ins Zimmer muss wen Besuch kommt, weil sie sich sonst zusehr aufregt und zur Gefahr für sich und den Besuch wird.
    Das üben an Banhöfen oder ähndlichem ist auch etwas ein Abwägen. Ich bin nicht bereit meinen Hund derart massivem Stress auszusetzen, den sie hätte bis eventuell langsam eine Gewöhnung einsetzen würde. Unser Alltag muss klappen, zum Beispiel musste sie sich ans Autofahren gewöhnen, aber ich gehe schon Kompromisse ein. Es kann gut sein dass es irgendwann möglich wird, weil wir uns weiterentwickelt haben, ich erzwinge aber Nichts. Riesen Fortschritte haben wir erzielt, unter Anderem können wir heute mit dem Auto an einen fremden ruhigen Ort fahren und spazieren, früher war sie da ein nervöses hibbeliges Bündel mit Durchfall.
    Müde wird sie auch sehr schnell, nach 1h sportliches Spazieren im Wald mit Freilauf ist sie platt. Im Moment merkt man die vielen Fluginsekten, die verängstigten sie früher sehr, heute geht es ganz gut, ist aber immernoch anstrengend.
    Nach Training (Busfahren, durchs Dorf spazieren oder Auto fahren) machen wir 1 Tag Pause und dann 2-3 Tage auf dem immer gleichen bekannten Spazierweg wo sie auch einmal richtig rennen kann und sehr wenige Stressauslöser hat. Dieser Rythmus hat sich bei uns sehr bewährt.
    Vielleicht konnte ich etwas helfen, bei Fragen melde dich doch einfach.
    Liebe Grüsse,
    Katrin

  • Danke für die ausführliche Schilderung. Tut gut und ist mir wichtig, andere Erfahrungen zu lesen! LG M.

  • Ich habe auche inen Rüden mit Deprivationssyndrom, allerdings äußert das sich bei meinem Hund anders. Er drückt seine Ängste in Aggressionen aus - hat weniger Probleme in der "freien Natur" als in der Stadt und dreht dann total auf, wenn er Stress hat (er läuft, und läuft, und läuft und übernimmt sich eher).
    Dinge wie Radfahrer in der Dunkelheit machten ihm IMMER Angst, wir haben das z.B. gut im Griff, aber es reicht ein Auslöser (und das muss nur ein Radfahrer sein, der Schlangenlinien fährt) und das Problemverhalten ist wieder voll da. Er hat Angst über Brücken zu laufen und krabbelt da fast wie eine Spinne drüber (obwohl wir seit einem Jahr drüber laufen, ohne Hilfe kann er nicht merken, dass ihm die Brücke nichts tut).

    Bei ihm fruchtet Training über positive Verstärkung bzw. Wattebauschwerfen extrem gut, weil man da imme rversucht Stress zu reduzieren und den Hund nicht zu überfordern. Man sieht zu, dass der Hund immer so entspannt wie möglich ist und so kann auch ein deprivierter Hund am besten lernen. Ich würde es nicht "Lernschwäche" nennen - im nicht erregten Zustand können diese Hunde wunderbar lernen... sobald es aufregend wird (selbst eine normalerweise lernförderluche Aufregung), geht das alles nicht mehr. Und das Zurückfallen. Das Zurückfallen ist wohl das "Schlimmste".

    Wenn z.B. es innerhalb seines vertrauten Umfeldes schon tausende Male okay war, dass dort Radfahrer unterwegs waren, kann es bei meiner Oma dann wieder genauso schlimm sein wie am Anfang.

    Ganz interessant ist auch, dass solche Hunde Angst "vor dem Nichts" haben, sie bleiben dann wie angewurzelt stehen vor etwas, das ich persönlich nicht wahrnehmen kann. Akuma läuft bei uns an der Promenade eigentlich sehr schön. Will ich dann einem anderen Fußgänger zur Seite ausweichen, krallt er sich am Asphalt fest udn stemmt sich dagegen, wenn ich ihn vorher nicht anspreche (und selbst dann ist die "unangenehme Seite" so gruselig, dass er nur zögerlich kommt, das hat nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun)... diese Kleinigkeiten,d ie sich ohne mein Zutun nicht ändern, habe ich anfangs sehr vernachlässigt, weil ich an seinem Aggressionsverhalten arbeiten musste. Jetzt sind sie ganz sichtbar.

    Es kommt auch stark auf den Hund an und welchen Reizentzug oder -mangel er durchlebt hat, aber ich sage ehrlich: Beim Lesen habe ich sofort an ein Deprivationssyndrom gedacht.

    Was ich eigentlich mit meinem Text sagen wollte. Es kann durchaus Deprivation sein, auch wenn vielleicht nicht alle Symptome dafür sprechen. Und wie gesagt, clicker ihr die Welt verständlich, vielleicht klappt es ja besser dann.


    PS. Schwirrende Insekten nerven ihn unglaublich. Vielleicht ist das für deine Hündin draußen auch schwierig? Er war zwar dann kein wimmerndes Elend, aber er war dann ein frustrierter "Kotzbrocken", der sich an meinem Ersthund abreagiert hat und das mit einem Ausraster, der sich gewaschen hat... hat lange geduert, bis ich Instekten als Ursache ausmachen konnte.

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