Angst vor Umweltreizen, Straßenverkehr

  • Hallo an alle :winken:


    seit 6 Monaten lebt eine Hündin aus dem Tierschutz bei mir und meinem Freund. Den Einzug haben wir lange Zeit geplant, und bevor sie bei uns eingezogen ist, waren wir mehrmals spazieren und hatten auch zwei Probetage bei uns zu Hause. Wir wollten einfach sicher sein, dass die Umstände für uns alle passen, vor allem weil wir einem sehr unsicheren Hund nicht das nötige Umfeld bieten könnten: kein Garten für reizarmes Training, zwar keine Innenstadt, aber dennoch mit Straße vor der Haustür. Aber die Umstände schienen zu passen - dachten wir jedenfalls.
    Die kleine wirkte überraschend selbstsicher und souverän. Drinnen war sie sehr kuschelig, hat die meiste Zeit Körperkontakt zu uns gesucht. Und draußen war sie neugierig und aufmerksam, zwar anfangs auch unsicher, aber sie hat sich toll an uns orientiert und lief mit uns auf einer Höhe.
    Dann kam nach 1, 2 Wochen Tag X...
    Sie hat sich plötzlich in ihre Box zurück gezogen, mochte kaum noch kuscheln und die Spaziergänge waren extrem stressig für alle Beteiligten. Ihre Aufmerksamkeit galt, oder besser gilt, seitdem nur noch dem Straßenverkehr. Sie hängt ohne Unterlass in der Leine und zieht wie verrückt mit ihren 26 kg. Fahrende Autos, Fahrräder, Jogger, alles was sich nur einigermaßen schnell bewegt, macht ihr Angst. In ihrer Angst geht sie in die Offensive und "verjagt" jede Gefahr. Und Erfolg hat sie damit ja auch noch... Super Lerneffekt...
    Diese Veränderung passierte nicht schleichend sondern von heute auf morgen. Sie ist seitdem nur noch auf die böse Umgebung fixiert. Den Clicker nimmt sie nicht mehr wahr (haben wir schon früh aufgebaut, um erwünschtes Verhalten in unsicheren Situationen zu bestärken) und Leckerli als Belohnung kann sie draußen auch nicht immer nehmen. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf die böse Welt gerichtet. Schon kleine Veränderungen im Tagesablauf bringen sie durcheinander und verschlimmern die Situation. Über die Feiertage musste mein Freund nicht arbeiten, dann kam noch die Zeitumstellung, diese Veränderungen haben sie so aus der Bahn geworfen, dass sie über mehrere Tage fast nur hechelnd in ihrer Box lag. Mein ganzer Alltag richtet sich mittlerweile nur noch nach ihr. Ich kann nicht mal mehr alleine das Haus verlassen, geschweige denn kurz einkaufen. Mitnehmen kann ich sie nicht, alleine bleiben kann sie auch (noch) nicht. Ich bin mittlerweile selbst so unentspannt und fühle mich oft hilflos. Und dann überträgt sich das natürlich auch auf den Hund. Ein Teufelskreis...
    Wie ich schon sagte, ist die Umgebung absolut nicht optimal für sie. Aber es war einfach nicht abzusehen, dass es sich so entwickelt. Bitte keine Anschuldigungen darüber, dass ich den Hund verantwortungslos einfach in die falsche Umgebung gesteckt hätte, denn das habe ich nicht.
    Ich möchte mit ihr daran arbeiten, ihr die Angst nehmen, Alternativen bieten und ihr ein vertrauenswürdiger "Rudelführer" sein, an dem sie sich gerne orientiert. Und das ist auch genau der Punkt, an dem es hängt: Wie kann ich ihr deutlich machen, dass ich sie draußen beschütze?
    Leider haben wir nur ein Auto und mit dem fährt mein Freund zur Arbeit. Um die 2-3 Pipirunden vor der Haustür komme ich also nicht drum rum. Nachmittags fahren wir dann in den Wald, aber dort ist es auf andere Weise super aufregend und sie hängt mit der Nase die meiste Zeit auf dem Boden... Wenn ich versuche, dort mit ihr zu spielen, ist sie sofort gestresst und beginnt zu hecheln. Spielen und Trainieren beschränkt sich also auf die Wohnung und da ist sie zum Glück aufmerksam und hat Spaß - falls es bisher so klang, sie findet ihr Leben nicht ausschließlich furchtbar, es gibt natürlich auch schöne Momente :rollsmile:
    Ich weiß, die Frage, wie ich ihr mehr Sicherheit und Schutz geben kann, ist schwer zu beantworten, aber vielleicht hat der ein oder andere ja doch einen Ratschlag oder eine Buchempfehlung, das wäre toll...


    Bevor ichs vergesse: Seit 3 Monaten arbeiten wir auch mit einer Trainerin zusammen, aber sie scheint nicht wirklich auf "Angsthunde" spezialisiert zu sein. Sie hat uns toll mit dem Umgang in der Wohnung geholfen, um einen Ausgleich zu ihrem ganzen Stress zu finden, aber was das Thema draußen angeht, ist sie laut eigener Aussage überfragt, weil es komplexer ist als Schlagwörter wie "Leinenführigkeit" und "Leinenaggression".


    LG Ella

  • Habt ihr die Möglichkeit zusammen mit einem anderen Hund zu laufen?
    Meine Hündin war auch sehr ängstlich und ich fast am Ende. Wir trafen dann eine Frau aus unserer Nähe mit einem älteren, entspannten Pudelrüden. Meine Hündin fand den toll und wir verabredeten uns dann zum gemeinsamen Spaziergang. Dieser Hund, mit seiner ruhigen Ausstrahlung, hat meiner Maus sehr geholfen und ich habe, Dank der Erfahrung und Gelassenheit der Dame, viel gelernt.
    Das hätte ich mit Büchern nicht geschafft und Hundeschulen oder Trainer gab es damals kaum.


    LG Terrortöle

  • Bist du sicher, dass sie wirklich Angst hat?


    Für mich hört es sich viel mehr nach Jagdverhalten an, wenn der Hund auf bewegte Reize so reagiert.


    Ein Angsthund würde eher nicht nach vorne gehen, außer, es gibt keinen anderen Ausweg mehr. Flucht oder Einfrieren/Erstarren wären eher die Antwort auf eine Konfliktsituation.


    Gegen Angst spricht auch, dass das Verhalten jetzt erst auftaucht.


    Die Definition Angsthund scheint hier auch falsch zu sein. Euer Hund ist sehr wahrscheinlich eher unsicher.


    Hat eure Trainerin sich das Verhalten an Autos mal angesehen? Die sollte doch eigentlich erkennen, was der Beweggrund ist.

  • Hallo Terrortöle :hust:
    Das ist eine klasse Idee. Hat in unserem Fall aber einen Haken: Die Hunde, denen wir auf unseren Spaziergängen begegnen, tanzen allesamt ihren Besitzern auf der Nase herum. Mir würde kein Team einfallen, das sich für uns eignet. Ich behalte das aber im Hinterkopf, Zufälle solls ja geben. Das wäre wirklich ne Möglichkeit. Danke für den Gedanken!

  • Ich würde auch eher davon ausgehen, dass euer Hund insgesamt Stress hat.


    Womöglich habt ihr die ersten ein bis zwei Wochen zu viel gemacht, so dass sie jetzt erst in die Stresspirale geraten ist?


    Als erstes würde ich mal versuchen, das Tagesprogramm drastisch runter zu fahren. Nichts aufregendes machen, keine großen Spaziergänge (wenn ihr einen Garten habt, nur den Hund dort an der Leine zum Pipi machen führen), kein Spielen in der Wohnung (das pusht vermutlich unnötig), viel Ruhe, viel Schlaft, viel räumliche Begrenzung, etwas zu Kauen geben (das beruhigt) und insgesamt ganz viel Struktur und Rituale in den Alltag einbringen.


    Ich fürchte, ihr seid da irgendwie in eine Stressspirale rein geraten.


    Das Runterfahren würde jedenfalls zeigen, ob es eher damit zusammen hängt.

  • Bist du sicher, dass sie wirklich Angst hat?


    Für mich hört es sich viel mehr nach Jagdverhalten an, wenn der Hund auf bewegte Reize so reagiert.

    100 % sicher bin ich natürlich nicht. Allerdings ist ihr Verhalten anders, wenn sie z.B. einen Hasen sieht. Da will sie richtig hinterher sprinten und gräbt sich nach vorne. Bei Autos ist das anders, erkläre ich weiter unten.


    Ein Angsthund würde eher nicht nach vorne gehen, außer, es gibt keinen anderen Ausweg mehr. Flucht oder Einfrieren/Erstarren wären eher die Antwort auf eine Konfliktsituation.

    Kann man das so pauschal sagen? Ist das nicht ganz individuell? Vor allem, wenn der Hund gelernt hat, dass er damit Erfolg hat?


    Gegen Angst spricht auch, dass das Verhalten jetzt erst auftaucht.

    Das Verhalten ist schon aufgetreten, nachdem sie 1-2 Wochen bei uns war. Da hast du dich bestimmt verlesen.


    Euer Hund ist sehr wahrscheinlich eher unsicher.

    Ob es nun Angst oder Unsicherheit ist, man müsste auf ähnliche Weise darauf reagieren oder? Und wenn er unsicher ist, sind wir auch wieder weg vom Jagdverhalten.


    Hat eure Trainerin sich das Verhalten an Autos mal angesehen? Die sollte doch eigentlich erkennen, was der Beweggrund ist.

    Ihre Meinung war, dass der Hund die Autos VERjagd. Es ist auch nicht so, dass sie wirklich hinter her rennen möchte. Wenn das Auto kurz hinter uns ist, springt sie einmal nach hinten aufs Auto zu und dann ein zweites mal nach vorne, wenn das Auto an uns vorbei fährt. Dann bleibt sie aber stehen.
    Trotzdem kann ich natürlich nicht ausschließen, dass sie evtl. jagt. Dafür fehlt mir die Erfahrung...

  • Auch wenn hier so ziemlich alle immer zu einem Trainer raten, ich habe mich in einem Verein gut aufgehoben gefühlt. Die meisten haben auch ein eingezäuntes Gelände.
    Ich hatte zwei Tierschutzhunde aus Spanien und in einem Schäferhundverein hat man mir sehr geholfen. In den Vereinen, egal ob SV oder DVG oder ????, gibt es auch viele Menschen mit Tierschutzhunden und ich finde da ist immer wer dabei der viel Erfahrung hat.


    LG Terrortöle

  • Womöglich habt ihr die ersten ein bis zwei Wochen zu viel gemacht, so dass sie jetzt erst in die Stresspirale geraten ist?


    Als erstes würde ich mal versuchen, das Tagesprogramm drastisch runter zu fahren. Nichts aufregendes machen, keine großen Spaziergänge (wenn ihr einen Garten habt, nur den Hund dort an der Leine zum Pipi machen führen), kein Spielen in der Wohnung (das pusht vermutlich unnötig), viel Ruhe, viel Schlaft, viel räumliche Begrenzung, etwas zu Kauen geben (das beruhigt) und insgesamt ganz viel Struktur und Rituale in den Alltag einbringen.

    Sehr gut möglich, dass die ersten Tage zu aufregend waren. Da war der Tagesablauf noch nicht so strukturiert wie heute.
    Mittlerweile haben wir Struktur pur. Noch mehr Rituale gehen kaum noch. Aber manchmal lassen kleine Veränderungen sich auch nicht umgehen, wie z.B. die Zeitumstellung und Tage, an denen mein Freund ausnahmsweise mal nicht arbeitet.
    Einen Garten haben wir leider nicht (hatte ich im ersten Post schon geschrieben).
    Wenn ich mit ihr nicht in der Wohnung spiele, wo denn dann? Auf den Spaziergängen geht es ja leider nicht, weil sie zu abgelenkt und aufgeregt ist. Die Alternative wäre dann gar nicht zu spielen und dann mache ich mir Sorgen, dass ihr der Ausgleich zum Stress fehlt. Aber an und für sich hast du natürlich recht. Die Dinge, die du ansprichst, bilden die Basis und ich versuche möglichst viel davon umzusetzen.


    Ich weiß, auch das ist wieder individuell, aber wie viel Spiel und Training (natürlich auch nur Dinge, an denen sie Freude hat, nicht irgendwelche Kommandos auf biegen und brechen oder so) soll ich ihr am Tag bieten?


    Unser Tagesablauf im Moment sieht so strukturiert aus:


    6:00 Mein Freund macht eine kurze Pipirunde mit ihr, wenn sie zurück sind, geht er duschen und ich spiele und trainiere für 5-10 Minuten mit ihr.


    7:00 gibts Futter (danach dreht sie ziemlich auf und simuliert anscheinend, wie sie auf die Jagd geht und Beute fängt. Ist das "normal"? Ich mache mir immer etwas Sorgen wegen einer Magendrehung...). Daraufhin schläft sie 2, 3 Stunden


    11:00 kurze Pipipause, wenn wir zurück sind spielen und trainieren wir wieder für 5-10 Minuten, danach schläft sie in mehreren Etappen, manchmal kommt sie auch zu mir aufs Sofa und möchte in meiner Nähe liegen. Im Laufe des Tages fordert sie mich manchmal auf, mich mit ihr zu beschäftigen, je nachdem komme ich dem nach und spiele/trainiere wieder 5-10 Minuten mit ihr


    16:30 kommt mein Freund nach Hause und der Hund freut sich nen Ast ab, weil das Rudel wieder zusammen ist. Dann wird ausgiebig zu dritt gekuschelt


    17:00 wir fahren für eine größere Runde (max. 30 Minuten, sonst ist sie "drüber") in den Wald, sie darf an der Schleppleine laufen, durchs Laub schnuffeln und wird belohnt, wenn sie neben uns läuft, oder sich zu uns umschaut


    19:00 gibts Futter


    Bis 22:00 passiert dann nicht mehr viel außer gemeinsam auf dem Sofa liegen und dann gehts noch eine kurze Pipirunde nach draußen.


    Kleine Änderungen gibt es natürlich immer mal wie Einkaufen oder eine Verabredung (nicht bei uns in der Wohnung) aber da ist sie nie dabei oder wartet bei Einkäufen mit einem von uns im Auto. Unser Grundprogramm bleibt aber immer erhalten.
    Für mein Empfinden ist das relativ wenig Programm bei sehr viel Struktur.

  • Hunde haben in Konfliktsituationen nur 4 Möglichkeiten (die 4 Fs):


    flight-fight-freeze-(flirt)


    Dass ein Hund Autos "verjagt" im Sinne von Vertreiben ist meiner Meinung nach eher selten und in diesem Kontext unwahrscheinlich, es sei denn, es handelt sich um erlerntes Verhalten.


    Angst wird eher nicht der Auslöser sein, würde ich sagen. Dass Stresssystem reagiert normalerweise mit Cortisolausschüttung und das ist eher ein "Fluchthormon".


    Ich schätze, dass bei euch da mehrere Dinge zusammen kommt und möglicherweise schätzt ihr den Hund auch nicht richtig ein. Stress wird ein großer Faktor sein.


    In diesem Fall würde ich zu einem Trainer raten, der sich das ganze mal ansieht.


    Eigentlich sollte jeder Hundetrainer da weiter helfen können. Es ist ok, wenn eurer Trainerin sagt, dass sie sich das nicht zutraut, aber vielleicht kann die an einen kompetenten Kollegen weiter leiten.


    Innerhalb einer fundierten Hundetrainerausbildung sind Angst, Aggression, Jagdverhalten usw. ganz normaler Ausbildungsinhalt. Als Trainer sollte man grob solche Dinge schon einschätzen können, um dann erst zu entscheiden, dass man sich da nicht ran traut, was die weitere Vorgehensweise angeht. Dafür tauschen sich Trainer untereinander aus oder es gibt auch die Möglichkeit, sich als Trainer coachen zu lassen.


    Da Angst, Unsicherheit und Furcht drei verschiedene Paar Schuhe sind per Definition, sollte erst einmal jemand über eine Anamnese heraus finden, worum es sich überhaupt handelt.


    Hier ist schon mal als Info ein Artikel zum Thema Angststörungen:


    Angststörungen - Hundepfoten in Not e. V.

  • Was genau spielt und trainiert ihr denn da?


    Leider ist es oft das Spiel an sich, was Hunde unnötig aufpusht. Der Gedankengang, dadurch Stress zu vermindern, ist naheliegend, aber nicht richtig.


    Wie viele Stunden am Tag schläft/ruht der Hund?


    An sich hört sich der Tagesablauf ganz gut an.


    Ich persönlich würde das Spielen weg lassen, weil es meistens einfach auch keinen Sinn macht, je nachdem, was Du machst.


    Beschäftigen kannst Du auch anders, über Futtersuchspiele zum Beispiel oder andere Nasenarbeit. Ruhige Sachen, bei denen der Hund sich konzentrieren muss. Das macht den Kopf schnell müde und der Hund kann besser entspannen.


    Alles, was mit bewegten Reizen und großer Unruhe zu tun hat, wie Bälle werfen, Stöcke werfen, Zergelspiele würde ich auf jeden Fall weg lassen (drinnen wie draußen).


    Viel schnüffeln lassen, Futter suchen lassen, alles ganz ruhig und konzentriert macht auf jeden Fall mehr Sinn und vor allem auch deutlich müder.

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