Zum eigentlichen Thema; Da geht es ja um die These, nicht die ersten Lebenswochen sind entscheidend, sondern die Junghundphase.
Das stimmt so nicht, weil hier einige unterschiedliche Aspekte durcheinandergeworfen werden, die getrennt betrachtet werden müssen:
Meine Erfahrung geht also eher dahin, daß Hunde in ihrer Jugend nachhaltig "versaut" wurden, nicht als Welpen, nicht als bereits gefestigte ausgewachsene Hunde.
Dem stimme ich soweit zu.
Dem daraus gezogenen Schluss allerdings nicht:
Meine Vermutung wäre, daß man vieles aus den ersten Wochen ausbügeln kann, daß gefestigte Hunde vieles wegstecken können und dagegen die Junghundphase eine sehr kritische Phase ist, in der viel richtig oder falsch gemacht werden kann was dann prägend für den Hund ist.
Bestimmte Fehler in der Aufzucht können nicht ausgebügelt werden, und dabei handelt es sich um Deprivationsschäden.
Unter den Begriffen Deprivation und Deprivationssyndrom sind mehrere Krankheitsbilder zusammengefasst, die allerdings eines gemein haben: Reizentzug.
Unter dem Deprivationssyndrom bei einem Hund mit reizarmer Aufzucht versteht man eine Fehlentwicklung /Mangelentwicklung im Gehirn.
Dazu muss man wissen, dass - genau wie beim Menschen - das Gehirn eines Hundes bei der Geburt noch unvollständig entwickelt ist. Sowohl die Sinne, als auch die sozialen Fähigkeiten sind bei der Geburt im Gehirn zwar angelegt, benötigen aber für deren Entwicklung äußere Reize.
Fehlen diese, gesamt oder auch in einzelnen Bereichen, werden Nervenzellen im Gehirn nicht entwickelt, es entstehen keine Verbindungen zu anderen Nervenzellen, sie werden verworfen (sterben ab).
Das lässt sich nicht reparieren.
Mittlerweile weiß man aber aus der Neurologie, dass das Gehirn ein ganz fantastischer Organismus ist, der so manche Fehlentwicklung/traumatische Einwirkung über "andere Kanäle" überbrücken und so zum Teil oder gar ganz ersetzen kann. Das macht man sich z. B. bei Schlaganfallpatienten zunutze.
Ein bekanntes Deprivationssyndrom ist z. B. die mangelnde Lernfähigkeit: Einem Hund bringt man immer und immer wieder etwas bei - und beim nächsten Mal fängt man wieder bei Null an.
Das ist auch nicht immer durch Deprivation verursacht, sondern kann auch genetische Ursachen haben.
Aber auch die Bewegungsmöglichkeiten müssen der Entwicklung der Welpen angepasst werden; Sind sie in der ersten Zeit noch sehr wenig mobil und müssen durch räumliche Einengung davor geschützt werden, sich zu weit von ihren Geschwistern und dem Muttertier zu entfernen, so muss mit wachsendem Alter auch die Bewegungsmöglichkeit und auch die Umwelterfahrung entsprechend ausgeweitet werden, um sowohl Mobilität als auch die anderen Sinne zu fordern und zu Fördern. Ohne das entwickelt sich nichts, und das Gehirn "verkümmert" in diesen Bereichen. Auch das ist größtenteils irreversibel.
Gerade im sozialen Bereich zeigen sich Defizite bei einem Reizentzug von sozialen Kontakten (Stichwort: Kaspar-Hauser-Syndrom) durch fehlende Fähigkeiten im sozialen Miteinander.
Der soziale Umgang mit der Mutter und die Interaktionen mit Geschwistern sind deshalb sehr wichtig für den Welpen, damit dieser Bereich im Gehirn entwickelt WIRD.
Ein Einzelwelpe, dessen Mutter bei der Geburt stirbt, und statt dessen in liebevoller, fürsorglicher Handaufzucht durch Menschen aufgezogen wird, erfährt aber auch das soziale Miteinander, welches wichtig für seine Hirnentwicklung ist.
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Ich denke mir immer meinen Teil, wenn mir jemand als Grund für seinen verhaltensoriginellen Hund eine "Schlechte Aufzucht" angibt, weil der "im Stall auf einem Hof" aufgewachsen, und deshalb "depriviert" ist .... ich habe dann immer so Bilder im Kopf von einer Hündin in einer schön warm mit Stroh ausgepolsterten Box, wo die Welpen rumkraxeln, und dann mit wachsender Mobilität einen Stall erkunden (mit Kühen, oder Pferden, oder Schweinen, mit deren Geruch und Geräuschen), dann auf dem Hof rumlaufen, immer mal wieder die Versorgung (und auch streichelnden Hände) von Menschen erfahren, die Traktorengeräusche hören und auch sehen, wo das herkommt und was diese Geräusche macht, den ersten Mäusen und auch Katzen begegnen ...
Da stelle ich die (oft selbstgestellte) "Diagnose" eines durch Reizentzug an einem aufzuchtbedingten Deprivationsschaden leidenden Hund doch sehr in Frage ...
Da bereitet mir mehr Sorge die Frage nach der Auswahl der Elterntiere, ob bei denen die gesundheitlichen und auch charakterlichen Eigenschaften so sorgfältig geprüft wurden, wie ich es mir für eine verantwortungsvolle Zucht vorstelle.
Zumeist hat man ja bei diesem Hintergrund doch nur "mal eben einen Rüden drüberhüpfen lassen", weil es grad passte ...
Dieses, durch einen Mangel an notwendigen Reizen zur Hirnentwicklung verursachte Deprivationssyndrom ist nicht zu verwechseln mit dem - besser unter dem Begriff "Hospitalisierungssyndrom" bezeichnete - Deprivationssyndrom, welches durch Isolation verursacht wird, und auch in späteren Lebensjahren auftreten kann.
Auch hier wird durch den dauerhaften Entzug von Reizen eine Veränderung im Gehirn bewirkt, ähnlich der Wirkung von traumatischen Ereignissen. Nur dass diese Veränderung sich über einen längeren Zeitraum entwickelt, während traumatische Ereignisse "nahezu unmittelbar eine Blockade von bis dahin üblichen, normalen Verarbeitungswegen im Gehirn" verursachen (in Anführungszeichen, weil das eine sehr laienhafte Beschreibung dessen ist, was Traumata im Gehirn verursachen, und auch nur unzulänglich das Leiden für Betroffene beschreiben kann).
Damit zum Junghund.
Ein in Wallung befindliches Hormonsystem ist kennzeichnend für diese Entwicklungsphase des Hundes. Besonders starkem "Hormonchaos" ist der Junghund in der Pubertät ausgesetzt, und wie er dann welche Umweltreize verarbeitet, ist oftmals von der Tagesform des Hundes abhängig - und die kann an besonders schlimmen Tagen auch mehrfach wechseln ...
Ja, dann kann unglaublich viel schiefgehen, und wenn der Hund in dieser Phase nicht besonders sorgfältig beobachtet und behandelt wird, "prägen" sich Erfahrungen und Erlebnisse "fürs Leben" ein.
Oft erlebe ich dann Menschen, die einfach nur genervt sind von dieser Phase und sich wünschen, sie wäre bald vorbei.
Ja, es ist nervig und unglaublich anstrengend, wenn man einen Hund, den man bis dahin als verlässlich im Einschätzen seines Verhaltens und auch umgänglich und gut händelbar erlebt hat, auf einmal gar nicht mehr so verlässlich und händelbar ist.
Hunde benötigen aber in dieser Phase keinen genervten Menschen, der diese Phase aussitzt und darauf wartet, dass diese Phase endlich vorbei geht.
Sie benötigen einen "Fels in der Brandung", einen immer verlässlichen, mit Gleichmut, Nachsicht und liebevoller Konsequenz agierenden Menschen, der ihnen Halt und Orientierung gibt, ein sicherer Hafen ist wenn sie Schutz suchen oder brauchen, der im Blick hat was dieser Hund in dieser Phase verarbeiten und leisten kann - und ihn davor bewahrt, Fehler zu machen die weitreichende Konsequenzen für das weitere Leben dieses Hundes haben könnten.
Sonst können für einen altersentsprechend noch ungefestigten Hund bestimmte Ereignisse prägend fürs Leben sein, und einen entsprechend hohen, unbequemen oder gar stark einschränkenden Umgang in der Haltung/dem Umgang für den Rest des Lebens nach sich ziehen.
Zusammenfassend:
Scheinbare Aufzuchtdefizite im Welpenalter halte ich eher seltener für die Ursache von Verhaltensauffälligkeiten im weiteren Verlauf des Lebens eines Hundes.
Hier ist eher der Umgang mit diesem Welpen verantwortlich, welche Erfahrungen er durch den Besitzerwechsel und damit verbundenem Umfeldwechsel macht.
Ein Hund, der auf einem Bauernhof aufgezogen wurde, ist nicht depriviert aufgrund der Tatsache, dass er keine typischen Großstadtumweltreize in seiner Welpenzeit kennenlernen durfte. Er wird schlicht reizüberflutet durch unkundige Halter, die ihn diesen für den Welpen bisher unbekannten Großstadtumweltreizen ungefiltert aussetzen. Auch das macht etwas mit dem Gehirn eines Welpen, denn bei einer Reizüberflutung hat das Gehirn keine Möglichkeit, einzelne Reize genügend zu verarbeiten, und das Gehirn legt sich dann eigene, nicht beeinflussbare "Umgangsweisen" mit diesen Reizen zurecht, die nur schwer wieder zu beeinflussen sind, wenn sie sich einmal etabliert haben.
Beim Junghund werden dagegen oftmals Fehler gemacht, die sich lebenslang auswirken, und schwer wieder zu korrigieren sind.
Passend dazu eine Begegnung, die ich erst gestern hatte:
Eine unsichere Junghündin, 21 Monate alt, kam uns mit ihren Menschen entgegen, Kontakt war erlaubt. Ich habe die Begegnung so gemanaged, dass die Hündin meine Hunde einzeln kennenlernen durfte, eine detaillierte Beschreibung des Ablaufs findet ihr im Spoiler.
Wichtiger ist der Grund: ... und den gibt es im nächsten post, weil ich jetzt zum ersten Mal beim Abschicken die Mitteilung bekam: Deine Nachricht ist zu lang ... 