Beiträge von Estandia

    Eowyn Ivey – The Snow Child / Das Schneemädchen


    "Alaska in den 1920er Jahren: In dem Wunsch, neu anzufangen, zieht das kinderlose Paar Mabel und Jack nach Alaska. Das harte Leben in der Wildnis setzt den unerfahrenen Neusiedlern sehr zu. Mit dem ersten Schneefall überkommt die beiden jedoch ein schon verloren geglaubter Übermut, und sie bauen zusammen ein Kind aus Schnee. Tags darauf entdecken sie zum ersten Mal das feenhafte blonde Mädchen zwischen den Bäumen am Waldrand. Woher kommt das Kind? Wie kann es allein in der Wildnis überleben? Und was hat es mit den kleinen Fußspuren auf sich, die von Mabels und Jacks Blockhaus wegführen?"


    Inspiriert von der russischen Märchengestalt Snegurotschka ist das "Schneemädchen" ein ganz bittersüßes, teils melancholisches und ruhiges aber sehr liebevolles Märchen, um ein ältliches Ehepaar und ein junges Mädchen aus der Wildnis. Während Mabel und Jack beide auf verschiedene Weise versuchen das Kind mehr an sich zu binden und Teil ihres Lebens werden zu lassen, wahrt das Mädchen immer eine Distanz, kommt problemlos in harschen Wildnis zurecht und zeigt sich auch nur in den Wintermonaten. Etwas Foreshadowing kommt zustande, als Mabel sich an eine Snegurotschka-Geschichte aus ihren eigenen Kindertagen und die verschiedenen Enden der ähnlichen Sagen und Märchen um diese Gestalt erinnert.

    Das letzte Viertel des Buches fand ich dann doch etwas übereilt und überraschend konventionell. Das Ende an sich fand ich jedoch nachvollziehbar.

    Sarah Moss – The Tidal Zone / dt. Gezeitenwechsel


    "Adam Goldschmidt lebt als hauptberuflicher Vater, nebenberuflicher Dozent und Ehemann einer überarbeiteten Ärztin in einem Vorort von Coventry. Seine Tage drehen sich um schmutzige Wäsche, vitaminreiche Ernährung und pädagogisch wertvolle Kindergeburtstage. Doch dann kommt der Morgen, an dem er einen Anruf aus der Schule seiner Töchter erhält. Er beginnt mit den Worten, von denen ein jeder hofft, sie niemals hören zu müssen: »Es ist etwas passiert«. Sensibel, humorvoll und mit einer Intensität, die unter die Haut geht, erzählt Sarah Moss von den Absurditäten eines Familienalltags in Großbritannien, von der Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern, vor allem aber von den Momenten, die uns die Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen führen."


    Dieser Thalia-Zusammenfassung brauch ich eigentlich nichts mehr hinzufügen, ich fand es großartig. Herrlich britisch, herrlich aktuell und unglaublich liebevoll. In Sachen Vaterschaft fand ich das Buch einen Augenöffner. Adam kümmert sich um den gesamten Haushalt, bekommt es auch unter Stress auf die Reihe, dass die Schuluniformen seiner Töchter morgens sauber bereitliegen, kocht frisches und gesundes Essen und ist kein sexistischer Nörgeler, so wie der Vater einer Schulfreundin. Interessant auch die Hürden, die er im Alltag erlebt. Seine jüngere Tochter darf er nicht aufs Frauenklo begleiten, sie aufs Männerklo mitnehmen geht auch nicht. Auf einer Geburtstagsfeier im Schwimmbad darf er nicht dabei sein, weil ein Mann, der kleine Kinder beobachtet (egal ob seine Tochter darunter ist) geht ja mal gar nicht, die anderen Mütter finden das unangebracht. Deren Söhne auf die Toilette begleiten, das soll er aber schon. Adam ist ein großartiger Charakter, voller Liebe und Verständnis für seine Töchter und seine Frau, auch wenn er nicht alles gut findet. Er leidet sehr unter der Ungewissheit, was seine Töchter befallen hat und jeder in der Familie geht mit dieser Tatsache anders um. Generell ein ruhiges Buch, es gibt keine ausufernden Streitereien oder großartige Konflikte durch Missverständnisse, Adam ist ein kluger Mann und arbeitet zeitgleich an einem Bericht über die Geschichte der Coventry Cathedral, seine Frau Emma ist Allgemeinärztin und steht auch stellvertretend für die aktuelle Situation der NHS in Großbritannien.

    Würdet Ihr mit einem fast 13 Jahre alten Senior, der seit gestern das Vestibularsyndrom hat, in knapp vier Wochen in den Urlaub fahren? Das Haus ist ca. 2 Stunden Autofahrt entfernt, es ist für ihn ebenerdig. Zum Haus führen aber 30 Treppenstufen, die er dann mehrfach pro Tag laufen müsste.


    Ich habe Anfang September noch einmal Urlaub und überlege, es zu verschieben.

    Ist es sein erstes Vestibular? Hat er Medis bekommen? Bei uns war es so, dass der Hund sich so nach 3 Tagen wieder komplett erholt hatte.

    George Orwell – 1984


    Noch so ein Klassiker, den ich noch nie gelesen habe. Muss man glaube auch nicht viel zu schreiben. Totalitäre Dystopie ohne Hoffnung, Freiheit, Individualität.

    Den ersten Teil fand ich gut im Sinne von interessant, da beschrieben wird wie die Welt funktioniert, Winstons Arbeit, wie die Vergangenheit und Gedanken kontrolliert werden etc. pp. Der zweite Teil war so ein Limbo zwischen persönlicher Revolution von Winston und Julia und der dritte Teil dann wirklich ganz grausam, wenn man begreift, was geschehen wird. Ich hatte das Buch physisch vor mir, entschied mich dann aber das Hörbuch, gelesen von Christoph-Maria Herbst, zu hören – was sich sehr von meiner Buchversion unterschied. Ich glaube, den Teil wo Winston das Buch der Bruderschaft liest und später die Zeit mit O'Brien, da hätte mich mich durchquälen müssen. Die ganze Geschichte zieht einen halt wirklich runter, mich hat das alles sehr an Gustave Le Bons "Psychologie der Massen" erinnert. Die Themen und Motive in 1984 fand ich dennoch spannend, gerade was Sprache angeht, Propaganda, Deprivation, Heranziehen von neuen (Verräter)generationen oder "Nutzen/Arbeit" zu haben durch ewigen Krieg....


    Farm der Tier finde ich zwar deutlich besser, aber ich bin froh, 1984 endlich mal gelesen/gehört zu haben.

    Am Ende gibt es einen "Twist", den man leicht übersehen kann.

    Welchen meinst du? Sind bei mir jetzt zwei Jahre her, dass ich das gelesen habe, und kann mich ad hoc an keinen Twist erinnern |)

    Kazuo Ishiguro – A Pale View of Hills / dt. Damals in Nagasaki


    "Nagasaki, Anfang der Fünfzigerjahre: Die Zerstörungen des Krieges sind der Stadt immer noch anzusehen, doch zwischen den Ruinen entstehen bereits neue, moderne Hochhäuser. In einem von diesen lebt Etsuko, zusammen mit ihrem Mann Jiro. Während dieser verbittert versucht Karriere zu machen, kümmert sich Etsuko um den Haushalt. Unterhaltung hat sie wenig, oft steht sie am Fenster und beobachtet, wie sich die Welt um sie herum verändert. Eines Tages zieht eine Frau in die Holzhütte unten am Fluss ein, zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Etsuko freundet sich mit den beiden an und muss bald feststellen, wie ihre Nachbarin über ihrem Traum vom Glück mit einem amerikanischen Soldaten mehr und mehr ihr Kind vergisst."


    Ishiguro's Debut-Roman und in jeder Weise legt dieses kurze Buch den Ton und die Art der folgenden Bücher fest. Die Geschichte, was eigentlich nur Erinnerungsbrocken von Etsuko sind, derer sie sich nicht immer ganz sicher ist, ob sie auch genau so passiert sind, wird dual erzählt. Etsuko, die im "Jetzt" gerade ein paar Tage mit ihrer jüngeren Tochter verbringt und dann das "Damals", kurz nach der Bombe in Nagasaki, als die Menschen versuchten in eine neue Realität zu finden. Eine ruhige Erzählung, Etsuko ist ein Charakter ohne Hast, fest verwurzelt mit ihrer japanischen Kultur, der Leser wird Teil ihrer Gedanken, Ansichten und Einstellungen ... und mehr und mehr bekriecht einen das Gefühl, dass nicht alles so war wie es scheint, dass die Menschen um sie herum vielleicht anders waren, als Etsuko glaubte. Am Ende gibt es einen "Twist", den man leicht übersehen kann.


    Eine starke Geschichte über Trauer, Traumabewältigung, Mutterschaft, die eigene Wandlung und die rasante Weiterentwicklung eines Landes, das lange glaubte einzigartig zu sein.

    Daniel Kraus – Whalefall


    Ich hab's jetzt auch endlich durch und zitiere mal

    Jay hat sich in den letzten Jahren komplett von seiner Familie entfremdet und auf Grund der Erlebnisse in seiner Kindheit den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. Nicht einmal dessen bevorstehender Tod, konnte ihn zu einer Versöhnung bewegen. Nun ist sein Vater Tod und Jay beschließt, sich auf die Suche nachs einen sterblichen Überresten zu machen. Doch beim Tauchgang zu diesem Unternehmen passiert das Unglaubliche, Jay wird von einem Pottwal verschluckt und muss um sein Überleben kämpfen.

    Ich fand die Beziehung zwischen Jay und seinem Vater Mitt unglaublich interessant aber echt toxisch und übergriffig, gerade weil es auch so isoliert von seinen Schwestern und seiner Mutter stattfand. Mitt wollte aus seinem (einzigen) Sohn jemand anderen machen als Jay fähig und willig war zu werden und Jay hegte nach einem (weiteren) Vorfall bis ans Ende einen starken Groll gegen seinen Vater. Dieses Hauptthema, den Zwang des Vaters zu erleben und ständig darauf aufpassen zu müssen wie und was er zu ihm sagt, wenn er als 9-jähriger (noch) nicht verstehen kann, was seinen Vater antreibt, seine Leidenschaften, was es heißt zu tauchen und welche Gefahren im Meer lauern. Jay's Werdegang, die Unterdrückung und Überforderung durch den Vater, das im Schatten stehen dieses großen, berühmten Mannes, die Stigmatisierung der Gesellschaft, als Jay nicht bereit ist sich von seinem todkranken Vater zu verabschieden sowie die späte Auseinandersetzung mit dieser Beziehung, das Anerkennen der wirklich lebenswichtigen Dinge und die schlussendliche Befreiung vom Vater fand ich ganz großes Kino.


    Zum Thema Wal und Jay kann ich nur auf den Body Horror hinweisen. Jay beschreibt sehr genau wie und wo er im Wal feststeckt und wie er versucht zu entkommen. Das ist nix für flaue Mägen |) Der Wal hat derweil auch noch richtig hart mit äußeren Einflüssen zu kämpfen. Hinzu kommt natürlich auch, dass Jay die Luft ausgeht.


    Ich glaube, die fantastische Lesung des Hörbuches hat viel dazu beigetragen, dass ich der Geschichte noch mehr abgewinnen konnte als eh schon. Aber ja, die Kapitel, die nur aus einem oder zwei Sätzen bestehen, die hätte es nicht gebraucht.

    Charlotte Brontë – Jane Eyre


    Ich hatte diesen noch nie gelesenen Klassiker auf meinem SuB und war auch völlig ahnungslos worum es ging. Der Klappentext klang aber sehr interessant. Muss man hierzu viel schreiben? Jane Eyre, Waise von Lowood, bitterarm und von ihrer Ziehfamilie misshandelt, weiß sie schon mit 10 Jahren, dass sie so nicht behandelt werden will und mit einem unbändigen Willen und immer ehrlich zu sich selbst, findet sie ihren eigenen Weg im viktorianischen England und schließlich die große Liebe zu ihren Bedingungen...


    Großartig geschrieben mit einer nachvollziehbaren, starken, sich durchweg treu bleibenden, Persönlichkeit. Ein großer Favorit von mir für dieses Jahr.



    Ros Anderson – The Hierarchies


    Sylv.ie ist Sexbot. Eine teure, lebendige Puppe, geschaffen, um einem Mann zu Diensten zu sein, ihrem "Ehemann". Dieser lebt mit seiner (biologischen) Frau in einem großen Haus, am Rande einer Hauptstadt – Sylv.ie lebt im Obergeschoss, verlässt nie ihr Zimmer und wartet dort auf ihren Ehemann, der meistens abends kommt, Schach mit ihr spielt, sie in teure Kleider steckt, sich mit ihr unterhält und sich dann von Sylv.ie nimmt, wofür sie geschaffen wurde. Sylv.ie's Programmierung folgt einer Hierarchie an Regeln. Ihr Mann steht über allem. Was er sagt ist Gesetz. Was er möchte, dem hat sie Folge zu leisten. Als Sylv.ie nach einer Wartung in einem "Krankenhaus" wieder nach Hause kommt, merkt sie, dass viel mehr Zeit vergangen ist, als sie gedacht hat, Dinge haben sich verändert, ihr fehlen Erinnerungen und in ihrem Tagebuch findet sie beunruhigende Einträge in Binärcode, geschrieben von ihr selbst an sie selbst.


    Ein ernster, melancholischer Roman, der in einer dystopischen Zukunft voller menschenähnlicher Maschinen, Bots und Droids spielt, recht komplex, vage in der Beschreibung wie die Welt aussieht aber weitaus detaillierter in der Ausgestaltung von Sylv.ies Welten, da ausschließlich nur sie beschreiben kann, wie sie ihre Umwelt, und die in ihr geltenden Hierarchien, wahrnimmt. Mich hat das Ganze sehr an "Klara und die Sonne", "Detroit: Become Human" und an eine sehr dunkle Version von "Chihiros Reise ins Wunderland" erinnert. Ich fand's unglaublich gut aber auch echt traurig, wenn man die Parallelen zu heute zieht und sieht.