Beiträge von Estandia

    Anna Kavan – Ice / Eis

    »In meinem eigenen Land konnte mir nichts zustoßen, und dennoch wuchs meine Unruhe, je weiter ich fuhr. Die Wirklichkeit war für mich immer eine unbekannte Größe gewesen«, konstatiert der männliche Erzähler in Anna Kavans Eis zu Beginn seines ­taumelnden Berichts, während er einer ihm gläsern erscheinenden Frau hinterherjagt und sie in die unendliche Wüste einer postapokalyptischen Eislandschaft treibt. Während die zeitlose Handlung zwischen extrem lebensfeindlicher Realität, fieberhafter Halluzination und brutalen Traumgebilden im gleißenden Licht verschwimmt, schiebt sich der Text wie übereinanderknirschende Eisschollen immer tiefer in das Leserhirn.
    Ob ­endzeitliche Science-Fiction-Story, Allegorie einer lebenslangen Heroinsucht, ob Verarbeitung persönlicher Traumata oder Zeugnis zutiefst entfremdeten Weltbezugs – wie auch immer die Kritik das Buch zu fassen versuchte: Kavans ­kristalline Prosa zeugt von der zugleich unendlich leeren wie überkomplexen Wirklichkeit eines inneren Kontinents weiblicher Empfindungen von seltener Dimension.

    Die Zusammenfassung des Verlages beschreibt dieses Buch ganz gut. Ein Paradebeispiel des Slipstream-Genres, wie ein eiskalter Fiebertraum. ChatGPT schreibt u. a. "Die Geschichte ist nicht linear und fragmentiert und in einem halluzinatorischen, traumähnlichen Stil geschrieben. Die Erzählung wechselt zwischen „realistischen“ Szenen einer Reise durch eine postapokalyptische Welt und surrealen, fast visionären Episoden, in denen Zeit, Ort und Identitäten der Figuren verschwimmen. Dies erzeugt ein zyklisches Gefühl – Ereignisse wiederholen sich in veränderter Form – und vermittelt eher den Eindruck eines gefangenen, obsessiven Geisteszustands als einer geradlinigen Handlung." – eine wirklich perfekte Beschreibung. Ich mochte diese Geschichte sehr, aber eher aufgrund ihrer Art, weniger wegen der Handlung an sich. Erforschte Themen sind Besessenheit und Kontrolle, Geschlecht und Macht, Apokalypse und Entropie, Desorientierung und Unwirklichkeit.

    Sarah Moss – Cold Earth

    "An der Westküste Grönlands erhält ein Team von Archäologen, das nach Spuren verlorener Wikingersiedlungen sucht, die Nachricht von einer Pandemie in ihrer Heimat. Als der arktische Winter naht, bricht die Kommunikation mit der Außenwelt zusammen und sie müssen um ihr Überleben kämpfen."

    Sechs Menschen verschiedener Herkunft, Erfahrung und Vergangenheit kommen in Grönland zu Ausgrabungen zusammen. Aus sechs Ich-Perspektiven, erzählt als Brief an jemanden, erfährt der Leser etwas über die unnachgiebige, karge Landschaft, die schwierigen Ausgrabungen, die Fundstücke, persönliche Details, Beweggründe und Beziehungen der Personen untereinander. Die klirrende Kälte, die Einsamkeit, das wenige Essen und die schwindenden Sonnenstunden machen allen Mitgliedern zu schaffen, jedem auf die eigene Art. Die Informationen über eine Art Pandemie, die im Rest der Welt passiert, sind nur sehr vage und unklar, da der einzige Laptop samt Funknetz alsbald den Geist aufgibt. Abgeschnitten von allem muss die Gruppe alle Hoffnung darin setzen, dass sie nicht vergessen wurden und das Flugzeug, dass sie nach Grönland brachte auch wieder abholt...

    Schön atmosphärisch, interessante, komplexe Charaktere, ein unbekanntes Land als bedrohlicher Protagonist, die namenlose Pandemie nur ganz am Rande kaum fassbar. Ich habe es sehr gemocht, hat mich mit dem Winter und der stetigen Kälte sehr an Michelle Pavers "Thin Air" erinnert. Erforschte Themen sind Isolation und Entfremdung, Sterblichkeit und Apokalypse, das Unheimliche und die Vergangenheit, Kommunikation und Fehlinterpretation. Das Ende ist mehrdeutig und lässt Fragen bewusst zur eigenen Interpretation offen.

    Mieko Kawakami – Brüste und Eier

    "An einem heißen Sommertag wird die dreißigjährige Natsuko von ihrer älteren Schwester Makiko und ihrer Nichte Midoriko in Tokyo besucht. Tokyo ist die Stadt, in die Natsuko als junge Frau kam, um ein neues Leben als Schriftstellerin zu beginnen, Osaka der Ort, den sie hinter sich ließ. Dort arbeitet ihre Schwester als Hostess: eine Frau, die Männern Gesellschaft leistet bei Alkohol, Essen und Karaoke. Makiko, die mit ihrem alternden Körper hadert, ist davon besessen, sich die Brust vergrößern zu lassen. Unterdessen ist ihre zwölfjährige Tochter Midoriko von der einsetzenden Pubertät überfordert. Unfähig, in einer Gesellschaft, die alles Intime tabuisiert, ihre Ängste und Wünsche zu kommunizieren, verstummt sie ganz. Und auch die asexuelle Natsuko fragt sich, welche Rolle ihr bleibt – als unverheiratete Frau, die nicht mehr Tochter ist und vielleicht nie Mutter sein wird. Als mit den Jahren in Natsuko der Wunsch nach Mutterschaft wächst und sie eine künstliche Befruchtung erwägt, schlägt ihr der Widerstand der Gesellschaft entgegen, die alleinstehenden Frauen wie ihr diese Option verwehrt. In ihrem eindringlichen Roman widmet sich Mieko Kawakami Fragen nach Geschlechterrollen und Schönheitsnormen und danach was es heißt, als Frau ein sinnreiches und selbstbestimmtes Leben zu führen."

    Thalias Beschreibung passt perfekt, muss man nicht mehr viel hinzufügen. Ich fand es großartig und wünschte, ich hätte dieses Buch vor "Heaven" gelesen, was so gar nicht meins gewesen war, dann hätte "Brüste und Eier" deswegen nicht so lange stiefmütterlich im Regal rumgestanden.

    Gegliedert in zwei Teile, befasst sich der erste mit Natsuko Natsume, einer 30-jährigen Schriftstellerin aus Tokio, die sich mit dem Schreiben schwer tut. Er umfasst nur einige Tage, an denen ihre ältere Schwester Makiko, eine Hostess aus Osaka, mit ihrer schweigsamen Tochter Midoriko zu Besuch kommt. Makiko möchte sich einer Brustvergrößerung unterziehen, während Midoriko nicht mehr mit ihrer Mutter spricht und nur noch über schriftliche Notizen mit ihr kommuniziert. Dieser Teil fängt ihre angespannten Interaktionen ein und offenbart ihre Ängste in Bezug auf Körper, Altern und Mutter-Tochter-Beziehungen. Der zweite Teil begleitet Natsuko einige Jahre, mittlerweile Ende 30, etablierte Schriftstellerin, aber weiterhin alleinstehend und kinderlos wie sie mit der Frage ringt, ob künstliche Befruchtung eine Option für sie wäre, interviewt Samenspender und Spezialisten und reflektiert dabei über Familie, Liebe und Einsamkeit.

    Erforschte Themen sind: der weibliche Körper und Autonomie, Mutterschaft und reproduktive Selbstbestimmung, Einsamkeit und Verbundenheit, Klassen- und Geschlechterdynamik.

    Coco Mellors – Cleopatra and Frankenstein

    "New York entgleitet Cleo zusehends. Sicher, sie ist jeden zweiten Abend auf einer anderen Party, aber sie kennt kaum jemanden. Ihr Studentenvisum läuft aus, und sie hat nicht einmal Geld für Zigaretten. Doch dann lernt sie Frank kennen. Frank ist zwanzig Jahre älter und sein Leben ist voller Erfolg und Überfluss, der Cleo fehlt. Er bietet ihr die Chance, glücklich zu sein, die Freiheit zu malen und die Möglichkeit, eine Green Card zu beantragen. Sie bietet ihm ein Leben voller Schönheit und Kunst - und hoffentlich auch einen Grund, seinen Alkoholkonsum einzuschränken. Er ist alles, was sie im Moment braucht.

    Cleo und Frank stürzen sich Hals über Kopf in eine Romanze, mit der keiner von ihnen so recht Schritt halten kann. Sie verändert ihr Leben und das der Menschen in ihrer Umgebung, sei es Cleos bester Freund, der nach ihrer Heirat mit seiner geschlechtlichen Identität zu kämpfen hat, oder Franks finanziell abhängige Schwester, die sich mit einem Sugar Daddy verabredet, nachdem ihr der Hahn abgedreht wurde. Letztendlich verändert diese zufällige Begegnung zwischen zwei Fremden außerhalb einer Silvesterparty alles, im Guten wie im Schlechten."

    Ich fand's großartig! Interessante Charaktere, keine Längen, eine glaubhafte Entwicklung der Handlungsbögen, keine Überspannung der "Drogenthemen", die ich persönlich nicht leiden kann und ein sinnvolles, Hoffnung machendes Ende. Ich mochte Cleo sehr, auch viele der Nebencharaktere, die echt gut ausgearbeitet waren.

    Diskutierte Themen sind: Liebe und Desillusionierung, mentale Gesundheit und Trauma, Identität und Zugehörigkeit, Kunst und Kommerz.

    Sara Gran – Come Closer

    "Noch einen Wimpernschlag zuvor schien Amandas Leben völlig in Ordnung: ein verlässlicher Ehemann, ein interessanter Job in einem Architekturbüro, ein schönes Loft in einer angesagten Gegend von New York City. Doch dann geschehen seltsame Dinge: In ihren Entwürfen tauchen obszöne Schmierereien auf. Amanda fühlt sich von einer Frau verfolgt. In ihrer Wohnung hört sie ein unerklärliches Pochen und Knarren, und sie verspürt auf einmal das dringende Bedürfnis, Menschen zu verletzen. Jemand scheint von Amanda Besitz zu ergreifen. Jemand, der stärker ist als sie - und sehr grausam ..."

    Thalias Beschreibung klingt reißerischer als ich es beschreiben würde, fasst die Sache aber trotzdem gut zusammen. Auf rund 200 Seiten begleitet man Amanda mit großen Schritten in den mentalen Abstieg. Anfangs passieren diverse kleine Dinge und hier und da kann Amanda sich ihre Fauxpas durchaus erklären und schönreden aber nach und nach wird alles in ihrem Leben irgendwie immer schlimmer. Erzählt aus Amandas Sicht in tagebuchähnlichen Zusammenfassungen ohne viel Schnickschnack gelingt es Sara Gran eine richtig unangenehme Atmosphäre zu schaffen, die Amanda förmlich zerreibt. Ich mochte vor allem die erste Hälfte, den Versuch herauszufinden, ob man wirklich besessen ist oder ob man sich alles einbildet und was für Dinge vor sich gehen, was sie bedeuten könnten und das aufkeimende Problem andere Menschen und Situationen nicht mehr einschätzen zu können... Der versierte Horror-Leser wird wahrscheinlich nach den ersten paar Seiten wissen "wohin die Reise geht". Ich fand es erfrischend böse :ugly: und ich mochte die Lore, die gegen Ende angeschnitten wird.

    Diskutierte Themen sind dämonische Besessenheit vs. Nervenzusammenbruch, unterdrückte weibliche Wut und Autonomie, Kontrolle, Identität und gesellschaftliche Erwartung, Isolation und unzuverlässiger Erzähler.