Louise Erdrich – The Sentence / Jahr der Wunder
"Eine kleine unabhängige Buchhandlung in Minneapolis wird von November 2019 bis November 2020 von der nervigsten Kundin des Ladens heimgesucht. Flora stirbt am Allerseelentag, aber sie will den Laden einfach nicht verlassen. Tookie, die nach jahrelanger Haft einen Job als Buchverkäuferin gefunden hat, muss das Geheimnis dieses Spuks lösen und gleichzeitig versuchen, all das zu verstehen, was in Minneapolis während eines Jahres der Trauer, des Erstaunens, der Isolation und der wütenden Abrechnung geschieht."
Ich empfand dieses als Offenbarung, eine wahre Schatztruhe, gefüllt mit vielen interessanten Geschichten, quirligen Charakteren, so viel Liebe und Verehrung für die eigene Herkunft, für die Menschen in den verschiedenen indigenen Communities aber vor allem für einen selbst, das eigene Leid, die eigene Schuld, die eigenen Wünsche und Geister, die einen verfolgen.
Tookies Erzählweise ist intim und rau, mit einer Mischung aus Humor, Sarkasmus und sehr emotionalen Momenten. Sie ist eine komplexe Figur mit einer scharfen, aufmerksamen und manchmal selbstironischen Stimme, was ihren Erlebnissen einen sehr ehrlichen, reflektierenden Ton verleiht. Ich habe mich sehr an Morowa Yejide's Creatures of Passage und Waubgeshig Rice's Moon of the crusted Snow erinnert gefühlt.
Während das erste halbe Jahr noch davon handelt, wie Tookie ihr Dasein in ihrer Community händelt, wie sie in dem kleinen Buchladen aufblüht und durch die Bücher, die sie empfiehlt ihre eigene Geschichte erzählen kann, passiert in der zweiten Hälfte schließlich Corona und das Leben dreht sich um Masken, Spaghetti und Abstand. Und dann passiert George Floyd. Und man ist mit Tookie dabei, mit all den anderen Minderheiten, die auf die Straße gehen, die auf Polizeigewalt treffen, die nicht mehr hinnehmen können, was ihnen Tag für Tag angetan wird. Und Tookie muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie viel Schuld ihr eigener Ehemann hat, ein ehemaliger Polizist, der auch an ihrer Verhaftung beteiligt war.
Die großen Themen des Buches sind das Übernatürliche und die Spiritualität, Trauer und Schuld, Ethnie und Identität, historischer und sozialer Kontext, die Macht der Bücher und des Geschichtenerzählens, Erlösung und Transformation. Ich kann das englische Hörbuch nur wärmstens empfehlen, es wird von Louise selbst gesprochen.