Beiträge von Estandia

    Mein Ziel und meine Devise war und ist immer, der Hund muss auf jeden Fall Stress und Anspannung und Frust aushalten können und soll diese Dinge auf jeden Fall erfahren. Aber ich führe den kontrolliert an Stressoren, an Auslöser, an unbekannte Dinge ran, ich schau, dass der nicht überreagieren muss, weil er diverse Situationen nicht (mehr) packt. Es gibt zwei schöne Sprüche, die mir immer ein Leitfaden in der Hundeerziehung waren: "Jede Emotion ist richtig, aber nicht jedes Verhalten" und "Wenn ich einen überkochenden Topf habe, dann pack ich nicht den Deckel drauf, sondern stell die Flamme kleiner". Ich baue mit dem Hund eine stabile Basis in Sachen Verhalten bei Stress und Frust auf, so dass der Schreckmomente gelassen hinnehmen kann und auch bei einer nicht geplanten Überstrapazierung nicht den Kopf verliert.


    Kontrollierte Anspannung ("positive Vorfreude", "Aktivierung") ist für gute sportliche Leistungen individuell sogar notwendig. Vokalisation des Hundes ist natürlich der offensichtlichste Hinweis darauf. Und das ist jedem Halter selbst überlassen, ob und wie man das beibehalten will.


    Zitat

    Neulich gab es die Situation beim Gassi, dass 2 Hunde am Fahrrad vorbeigerannt sind, was meine Hündin ziemlich aus der Fassung brachte. Sie blieb aber auch nachdem die Hunde außer Sicht (10 Sek.) abgebogen waren weiterhin angespannt, quietschte usw. wollte hinterher. Kurzzeitig setzte sie sich selbstständig, guckte auch mal weg und fiepte nicht mehr, dafür wurde sie verbal belohnt. Switchte dann aber wieder um, wollte den Hunden wieder hinterher, fiepte, war aufgeregt.

    Zwei unbekannte rennende Hunde, die auf einen selbst erst zulaufen, passieren, sich entfernen und dabei (wahrscheinlich) nicht situationsgerecht kommunizieren – das ist schon ein schwer einzuschätzender Supergau. Klar stresst das mehr als anderes. Wenn du es dir leisten kannst, schauen lassen, beruhigen lassen, nett ansprechen, weitergehen. Abends ist das wieder vergessen und verarbeitet.

    Ali Smith – Winter


    "Winter – die kürzesten Tage, die längsten Nächte. Eine Jahreszeit, die uns das Überleben lehrt. Vier Leute, Fremde und Familie, verbringen Weihnachten in einem riesigen Haus in Cornwall, und doch stellt sich die Frage, ob jeder genug Platz findet. Denn Arthurs Mutter Sophia sieht Dinge, die nicht sein können. Arthur selbst sieht andere. Und da sind noch Iris, Sophias Schwester, ewige Rebellin, nach dreißig Jahren wieder zurück, und Lux, eine Fremde, die Arthur als seine Freundin ausgibt. Eine besondere Nacht, voll Streit und Lügen, Erinnerungen und Mythen."


    Band 2 der Jahreszeitenreihe, bisschen besser noch als "Herbst" aber natürlich genau so interessant und experimentell und am Puls der Zeit. Superviele Referenzen/Andeutungen zu aktuellen Themen und Problemen unserer Welt, die Charaktere mannigfaltig bis wunderbar schrullig. Es geht um Isolation (im Alter), familiäre Spannungen und (Vor)Täuschungen, Abrechnungen mit der Vergangenheit sowie Reflexion und Wiederannäherung nach Konflikten.


    Haupthemen sind Zerrissenheit und Verbindung, Zeit und Erinnerungen, Umwelt- und Sozialthemen, Kunst und Wahrnehmung.

    Akimitsu Takagi – The Tattoo Murder


    Tokio, 1947. Bei der ersten Nachkriegssitzung der Edo Tattoo Society enthüllt Kinue Nomura unter großem Beifall ihre Ganzkörpertätowierung in Form einer Schlange. Vor allem bei Frauen immer noch ein Unding, erregt Kinue viel Aufsehen, der anwesende junge Mediziner Kenzo Matsushita verfällt der Schönheit bei diesem Spektakel. Kinue offenbart Kenzo, dass sie schon länger in Angst lebt und glaubt, bald ermordet zu werden. Nur wenige Tage später wird in Kinue's Haus eine zerstückelte Leiche gefunden, der Rumpf mit dem Schlangen-Tattoo ist nirgends zu finden, Arme, Beine und der Kopf jedoch befinden sich im, von innen verschlossenen, Badezimmer. Kenzo und sein Bruder, Polizeichef Daiyu, setzen alles daran den Fall zu lösen ...


    Der wohl populärste klassische japanische "Locked-Room"-Krimi. Hervorragende Übersetzung, flüssig, mitunter lässig-humorvoll, super zugänglich, die Kapitel oft nur wenige Seiten lang. Tempo fand ich anfangs eher langsam, der Mord passiert erst zur Hälfte des Buches, bis dahin geht's hauptsächlich um die Etablierung des zerbombten Tokios als Schauplatz, Vorstellung der doch recht vielen Charaktere und der Ausarbeitung der Tattoo-Szene. Das letzte Viertel gibt eine sehr genaue Aufklärung über das wie was wo wer wann und lässt keine wichtigen Fragen offen. Ich fand es sehr zufriedenstellend, mein Hauptinteresse galt der Frage wie der verschlossene Raum erklärt wird, den Mord an sich fand ich eher zweitrangig.

    So war es hier auch. Unser Hund hat allerdings bis zum Ende alles und das gern gefressen, hat gespielt, auf Spaziergängen geschnüffelt und wirklich noch aktiv an seiner Umwelt teilgenommen. Dagegen standen dann die Zeiten, wo er nicht bei sich war, gehechelt hat, verloren rumstand, nicht schlafen konnte und man gemerkt hat "Licht war an, aber es war keiner zu Hause". Als die schlechten Zeiten öfter und länger als die guten auftraten, hab ich entschieden, dass es Zeit war, den Hund gehen zu lassen. Ich habe in der letzten Woche nichts verändert, für den Hund waren die Tage wie jeder andere, die Routine hat ihm Sicherheit gegeben, da er mental halt auch schon stark eingeschränkt war. Er hat natürlich nur noch sein Lieblingsfutter bekommen.

    Wie viel Gehorsam setzt ihr voraus, bevor der Hund frei laufen darf? Wie viel Risiko, dass er doch mal weg läuft, nehmt ihr in Kauf? Wie oft müssen Trigger Situation an der Leine geklappt haben, bevor ihr euch sicher seid, dass ihr entspannt spazieren gehen könnt?

    Ich hatte über 16 Jahre lang einen Hund und jetzt wo ich auf diese gesamte Zeit zurückschauen kann, kann ich nur sagen, dass wirklich nur sehr wenig dafür aber ein paar essenzielle Dinge wichtig waren: Bedürfniserfüllung, Selbstkontrolle, ein respektvoller Umgang und eine gute Beobachtungsgabe in Sachen Körpersprache. Bokey kannte zur Ansprache seinen Namen aber keinen Rückruf, er konnte sich an Triggern selbst regulieren ohne Intervention, er war höflich mit anderen Hunden/Tieren, und ich habe drauf geachtet, ihn in guten Entscheidungen einfach zu unterstützen. Der Hund konnte bis zu seinem letzten Tag ohne Leine laufen, es war nur individuell körperlich und mental manchmal für ihn nicht mehr machbar.

    Natürlich hab ich mir das Hundeverhalten am Anfang angesehen und bewertet und nach und nach den Freilauf unter Anleitung integriert. Eine Schleppleine hatte ich nie. Der Hund war leinenführig und das war sehr entspannt, ansonsten lief er eben frei.

    Natürlich hoffe ich, dass sich unser nächster Hund so oder so ähnlich entwickeln wird. Das komplette Gegenteil zu Bokey habe ich seit über zwei Jahren im Büro, schocken kann mich kaum noch was |)

    Kate Griffin – Fyneshade


    "Am Tag der Beerdigung ihrer geliebten Großmutter erfährt Marta, dass sie Gouvernante der jungen Tochter von Sir William Pritchard werden soll. Von ihrem Geliebten getrennt und von ihrer Familie verstoßen, bleibt Marta nichts anderes übrig, als zu Pritchards altem und verfallenem Haus Fyneshade in der Wildnis von Derbyshire zu reisen.

    In Fyneshade ist nichts wie es scheint. Martas Schülerin, die kleine Grace, lässt sich nichts beibringen, und Marta findet keinen Trost bei den schweigsamen Dienern, die ihr nicht in die Augen sehen wollen. Noch verblüffender ist, dass Sir William auf mysteriöse Weise abwesend ist und sein Sohn und Erbe Vaughan das Haus nicht betreten darf. Marta fühlt sich zu Vaughan hingezogen, trotz der Warnungen der Haushälterin, dass er eine Gefahr für alle um ihn herum darstellt. Aber Marta ist keine Unschuldige, die sich ausnutzen lässt. Geleitet von der dunklen Gabe, die sie von ihrer Großmutter gelehrt bekommen hat, schmiedet sie ihre eigenen Pläne. Und es braucht mehr als eine von mörderischen Geheimnissen zerrissene Familie, um sie aufzuhalten..."


    Ein recht unerwartet fieser und dunkler Victorian Gothic Mystery Thriller. Hat mich sehr an Laura Purcell erinnert, die Protagonistin als Teil eines Herrenhaus-Haushalts aber bei weitem nicht so kleinlaut und vorsichtig. Marta versteht sofort, dass die kleine Grace in ihrer Entwicklung benachteiligt ist (Down-Syndrom wird hier angedeutet), und macht sie sich durch Versprechungen und milde Gaben zur Verbündeten in dem verschwiegenen Haushalt. Marta ist absolut keine liebenswürdige Person, sie versucht aus allem ihren Vorteil zu ziehen und alle gegeneinander auszuspielen, mit dem Hintergedanken, dass ihr Fyneshade einmal gehören soll. Als unzuverlässige Erzählerin baut Marta einen guten Spannungsbogen auf, psychologisch sehr komplex mit einer übernatürlichen Grundstimmung. Das Ende habe ich so nicht kommen sehen, da hätte ich mir aber auch noch gern ein paar mehr Seiten zu gewünscht.


    Laut Danksagungen ist Fyneshade stark von Henry James' Turn of the Screw / Die Drehung der Schraube inspiriert und erzählt eine mögliche Geschichte jener Gouvernante, die am Anfang der Geschichte nach Bly kommt. Auch Fyneshade ist im Unterton eine Geistergeschichte, die Charaktere verdammt und heimgesucht.

    Bobby Palmer – Isaac and the egg / Isaac und das Ei


    Isaac Addy hat seine Frau verloren. Als die Tage ohne sie immer schlimmer werden, findet er sich schließlich auf einer Brücke wieder, klettert schon über die Brüstung und brüllt seine Wut und Verzweiflung über den Fluss in den angrenzenden Wald hinein. Da brüllt etwas aus dem Wald zurück und Isaac will nachsehen, was da zwischen den Wurzeln so weiß schimmert. Springen kann er später ja immer noch.

    Auf einer Lichtung findet er ein Ei, gut einen halben Meter groß, übernatürlich weiß und flauschig mit einem wirren Haarschopf. Isaac nimmt "Ei" mit nach Hause und fortan treibt "Ei" sein Unwesen im Haus und Isaac an den Rand seiner weggeschlossenen Erinnerungen ...


    Mit Debütromanen ist es ja manchmal so eine Sache, dass der Autor ganz viel sagen will und darüber Sinn und Struktur vergisst. Das ist hier nicht der Fall. Die Geschichte bleibt dicht bei Isaac und seinem Ei, hat wenige Nebencharaktere, was aber Isaacs Zurückgezogenheit geschuldet ist. Isaac geht es nicht gut, er trauert, er leidet, er vernachlässigt sich, er hat Gedächtnislücken, er will sich auch mit vielen Dingen nicht auseinandersetzen müssen. Der Tod seiner Frau hat ihn gebrochen und hilflos zurückgelassen, das Haus ist immer noch so voll von ihr und ihren Dingen. "Ei" zwingt ihn sich damit zu befassen, die Interaktionen zwischen den beiden sind saukomisch und die Wohngemeinschaft könnte nicht ulkiger sein.


    Natürlich steht "Ei" für eine ganze Reihe an Dingen und Themen, die das Buch erforscht. Das ist nicht immer einfach, oft sehr herzzerreißend aber nie schwermütig. Die Aufklärung hatte noch mehr Facetten als ich vermutet hatte. Die letzten Seiten haben es dann noch mal in sich und die Geschichte findet ein rundes, überzeugendes Ende. Für ein Erstlingswerk großartig.

    Louise Erdrich – The Sentence / Jahr der Wunder


    "Eine kleine unabhängige Buchhandlung in Minneapolis wird von November 2019 bis November 2020 von der nervigsten Kundin des Ladens heimgesucht. Flora stirbt am Allerseelentag, aber sie will den Laden einfach nicht verlassen. Tookie, die nach jahrelanger Haft einen Job als Buchverkäuferin gefunden hat, muss das Geheimnis dieses Spuks lösen und gleichzeitig versuchen, all das zu verstehen, was in Minneapolis während eines Jahres der Trauer, des Erstaunens, der Isolation und der wütenden Abrechnung geschieht."


    Ich empfand dieses als Offenbarung, eine wahre Schatztruhe, gefüllt mit vielen interessanten Geschichten, quirligen Charakteren, so viel Liebe und Verehrung für die eigene Herkunft, für die Menschen in den verschiedenen indigenen Communities aber vor allem für einen selbst, das eigene Leid, die eigene Schuld, die eigenen Wünsche und Geister, die einen verfolgen.


    Tookies Erzählweise ist intim und rau, mit einer Mischung aus Humor, Sarkasmus und sehr emotionalen Momenten. Sie ist eine komplexe Figur mit einer scharfen, aufmerksamen und manchmal selbstironischen Stimme, was ihren Erlebnissen einen sehr ehrlichen, reflektierenden Ton verleiht. Ich habe mich sehr an Morowa Yejide's Creatures of Passage und Waubgeshig Rice's Moon of the crusted Snow erinnert gefühlt.

    Während das erste halbe Jahr noch davon handelt, wie Tookie ihr Dasein in ihrer Community händelt, wie sie in dem kleinen Buchladen aufblüht und durch die Bücher, die sie empfiehlt ihre eigene Geschichte erzählen kann, passiert in der zweiten Hälfte schließlich Corona und das Leben dreht sich um Masken, Spaghetti und Abstand. Und dann passiert George Floyd. Und man ist mit Tookie dabei, mit all den anderen Minderheiten, die auf die Straße gehen, die auf Polizeigewalt treffen, die nicht mehr hinnehmen können, was ihnen Tag für Tag angetan wird. Und Tookie muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie viel Schuld ihr eigener Ehemann hat, ein ehemaliger Polizist, der auch an ihrer Verhaftung beteiligt war.


    Die großen Themen des Buches sind das Übernatürliche und die Spiritualität, Trauer und Schuld, Ethnie und Identität, historischer und sozialer Kontext, die Macht der Bücher und des Geschichtenerzählens, Erlösung und Transformation. Ich kann das englische Hörbuch nur wärmstens empfehlen, es wird von Louise selbst gesprochen.

    Das Gebinde Amontillado

    Hieß das nicht immer das Fäßchen? :???: Was für eine seltsame Übersetzung...

    Ich hab mich die ganze Zeit beim Lesen der Geschichte auch gefragt, warum "Gebinde" :denker: ... scheinbar wurden in dieser 2017er-Auflage (orig. 2012) die eher seltenen Übersetzungen genutzt. Genau wie Ascher statt Usher. Ich hatte auch für die ersten Geschichten jeweils eine (irgendeine) Audio-Version gehört, aber da gehen die Übersetzungen auch echt weit auseinander, so dass man den Text nicht mal halbwegs parallel hätte lesen können.