Wie schon geschrieben: Ich musste für dieses Buch in mehrfacher Hinsicht aus meiner Komfortzone raus. Die durchgängig von Verachtung und (sexualisierter und nicht sexualisierter) Gewalt durchzogene Sprache hat mich enorm abgestoßen. Dadurch war es eh schon anstrengend, geistig dabei zu bleiben, was durch Endlossätze und nicht lineare Erzählweise noch verstärkt wurde. Die Erzählung ist in ihrer Wucht faszinierend, Sprache und Inhalt reflektieren sich. Denn es geht um die Sogwirkung von Elend, aus Unbildung resultierendem Aberglauben und Gewalt und dieses mitgerissen Werden ist in Stil und Sprache meisterhaft gespiegelt.
Ein Mord ist der Hintergrund, vor dem sich das Geschehen entfaltet, doch der Mord ist nicht das Thema. Das Thema ist Elend und daraus hervorgehende und sich in einem quasi endlosem Kreislauf duplizierende verbale und körperliche Gewalt. Es hat verschiedene Stimmen bekommen (nicht aber die des Opfers). Verschiedene Personen erzählen von ihrer Sicht auf das Ereignis und damit noch vielmehr über sich und ihr Leben in auswegsloser Armut und in einem Existenzkampf, in dem freundliche Gesten in sich schon die Gewissheit enthalten, in Gewalt umzuschlagen, in dem Zuwendung unweigerlich eine Komponente von Ausbeutung und Verachtung mitschwingt, in der Realismus Resignation heißt und man dort nicht Opfer wird, wo man selbst grausam agiert. Ein Höllenloch, in dem sie leben, als Ausgebeutete und Opfer des Wohlstands Anderer. Der Leser, unter Anderem. In der Männer ihre Männlichkeit besitzen und jederzeit verteidigen müssen, Frauen nicht die Männlichkeit - und die daraus resultierende Minderwertigkeit wird ihnen von klein auf eingebläut - aber ihren Platz im Gefüge. Den sie nicht weniger grausam verteidigen als die Männer.
Und dann ist da das Opfer selbst ist für mich in mehrfacher Hinsicht eine Leerstelle. Genau gelesen ist es nicht mal die Hexe selbst, sondern das schwächliche „Hexenbalg“. Die Hexe taucht auch tot auf, aber ist bei Erzählung schon hinter verschlissener Tür.
Das angesprochene Opfer ist ihr Kind. Bei dem sich schon zu Zeiten ihrer Kindheit gewundert wurde, wie es überlebt hat und wo es überhaupt herkommt. Das an den Platz gestellt ist, weil nunmal kein anderer Platz für es da war, aber der es die Kraft und Macht, die man von der „Bruja“, der „Hexe“ eigentlich erwarten würde, scheinbar gänzlich fehlt. Eine Transfrau (so vermute ich zumindest, ihre eigene Auffassung dazu kommt nicht zu Wort). Eine Wucherin, die aber nicht vermögend ist und die sich in ihrer Ausbeutung selbst ausbeuten lässt. Sogar wenn von ihrem Begehren gesprochen wird - in einer ausnahmsweise eher weichen, klassisch poetischen Sequenz - dann nicht mit ihrer Stimme.
Zu ihr kommen die, die sich für Sex bezahlen lassen und sie bezahlen lassen für ihre Zweifel an der eigenen geschlechtlichen Identität. Folgerichtig dann auch mit ihrem Leben. Dafür, dass sie da steht, wo sie steht. Für imaginären Reichtum, den zu verstecken man ihr vorwirft. Und dafür, sentimentale Schnulzen auch noch schlecht zu singen. Mit ihr stirbt nicht die Hoffnung, denn die hat es nicht gegeben. Es wird getötet, was ohnehin nicht ganz da war.
Mit diesem Übermaß an Fläche für den fast zwangsweise folgenden Mord an ihr - Hexe, Transfrau, Wucherin - und dem Fehlen ihrer Stimme vom schlechten Schnulzengesang abgesehen komme ich nicht gut klar. Ich kaue noch gedanklich darauf herum, ob ich sie nicht nur als Opfer ihrer Umstände, sondern auch als unnötiges! Opfer ihrer Autorin betrachte, oder ob diese Leerstelle die Aussagekraft des Romans ggf. doch verstärkt.
Ich habe mich als Lesende in die Funktion der entsetzt und befremdet Zuschauenden verwiesen gefühlt. Nicht der Voyeurin, denn mir hat die emotionale Verbindung zu den Figuren gefehlt. Teils aus dem Stil der Chronik heraus, teils aus der Konsequenz, mit der den Figuren Erleichterung, positive Identifikationsfläche verweigert wird, wie in einer übersteigerten Fortführung des epischen Theaters (und ich vermute, mit der gleichen Absicht). Das Geschehen lässt keinen Spielraum für einen Ausweg, es steht einem unversöhnlich gegenüber und man schaut mit Ohnmachtsgefühl zu.
Das ist es auch letztlich, was für mich an Eindruck bleibt. Für mich neue Informationen habe ich aus dem Roman nicht gezogen, sowohl die Fakten als auch die Einsichten ins menschliche Leben waren mir nicht neu. Unbehaglich ist mir mein Platz im Geschehen. Bzw. wie geschrieben strikt außerhalb des Geschehens.
In einer ersten Lesart sehe ich es als Platz, der mir als Privilegierte (im Vergleich zu den dargestellten Verhältnissen), als Nutznießende des Wohlstands, der mit bitterer Armut anderswo erkauft wird, gebührt. In einer zweiten Lesart wundere ich mich darüber, warum mir das Geschehen, die Gewalt, die Grausamkeit so fremd, unzeitgemäß, fern von „meiner Zivilisation“ erscheint. Denn auch hier steht nicht minder große Barbarei schon längst in der Türschwelle.
Ich werde noch darüber nachdenken müssen.
Als Ausblick im Roman kommt - neben dem Tod - die Zeit der Wirbelstürme. Es wird das Aufflackern von Aufstand, von Gewalt angesprochen. Doch auch hier passt das Bild des Wirbelsturms. Ich zweifle im Kontext des Geschehens nicht an, dass sich aus dem Zorn der Figuren ein Sturm aus Gewalt ergeben kann. Ich zweifle auch nicht an, dass es ein Ausbruch bleibt, der um sich selbst kreist, dort rücksichtslos mitreißt, was er erwischt - doch ohne umstürzende Wirkung auf das Umland bleibt.