Ich seh in deinen Erzählungen ganz viel von meinem Carlo (nur dass bei ihm die Narbe nicht um den Brustkorb, sondern den Bauch vor der Hüfte geht).
Carlo kam mit mehreren Beißvorfällen in der Vergangenheit zu uns, ist bei Sichtung von anderen Lebewesen zu Beginn teilweise kaum händelbar gewesen, ist im Zweifel (und er war oft im Zweifel) in deutlicher Beschädigungsabsicht nach vorne gegangen. Besuch nicht möglich, auch nicht mit Hund in anderem Zimmer. Sobald fremde Personen *sein* Haus betreten haben, ist er steil gegangen.
Heute sieht das ganz anders aus. Wir können entspannt an fremden Menschen vorbei spazieren und Carlo liebt es, Besuch zu bekommen. Egal, ob bekannte oder ihm fremde Personen.
Aber: zwischen damals und heute liegen 6 Jahre Arbeit. Auch heute ist immer Management erforderlich und es gibt, außer meinem Mann und mir, nur eine Person, mit der Carlo ohne Maulkorb interagieren darf. Wir haben spezielle Rituale für die Begrüßung von Besuch. Bei uns starten diese Rituale tatsächlich sogar einen Tag bevor Besuch kommt (spontan mal jemanden reinlassen geht zwar auch, aber ist weniger entspannt).
Unser Management fällt Besuchern nicht auf, aber sowohl mein Mann, als auch ich haben immer ein Auge und ein Ohr bei Carlo. Es gibt für ihn Sicherheitszonen, in die er sich jederzeit zurückziehen kann und wir kennen seine Signale, wenn es ihm zu viel wird und er Hilfe in Interaktionen braucht.
Dazu wird der Besuch von uns auch gemanagt und gelenkt, so dass es zu keinen Engstellen und potenziell blöden Situationen kommen kann. Das ist teilweise offensichtlich, mit Hausregeln, die Besuchern vorher mitgeteilt werden, aber auch wie die Möbel hier stehen oder wie wir den Besuch "abrufen" und "umlenken" ("Kannst du mir schnell in der Küche helfen", "Hast du schon die neue Pflanze gesehen", ...).
Unser Weg lief so, dass wir zu Beginn mit der Familie geübt haben - auf Abstand, Hund und ich im Garten, der Rest auf der Terasse oder so. Bis zum Umfallen hab ich mit Carlo abwenden und weggehen geübt. Für ihn war das davor einfach keine Option, der einzige Weg war nach vorne. Dazu auch Hilfe bei mir holen, sich zurückziehen, wegschicken lassen, Berührungen tolerieren und: ganz viele "sinnlose" Tricks, wie winken, verbeugen, Pfote geben, auf Abstand sitz und platz - um damit eine Brücke zu schlagen und sowohl Carlo, als auch andere Menschen gemeinsam positive Erfahrungen sammeln zu lassen.
Auf diesem Anfang haben wir aufgebaut, Nähe etabliert, Dauer aufgebaut, später Freunde und Bekannte mit ins Boot geholt, an verschiedenen, für Carlo neuen Orten geübt und dann das erste Mal die Familie zu uns eingeladen. Da war noch super viel Management notwendig und nach 10 Minuten haben wir sie wieder heim geschickt, weil Hund und ich durch waren.
Ich hatte so das Gefühl, dass es bei Carlo langsam im Hirn "click" gemacht hat, als er eine Hand voll neuer Personen kennen gelernt hatte. Man hat richtig gemerkt, wie er langsam offener wurde und mit jeder neuen Person entspannter im Umgang wurde.
Es war wirklich, wirklich verdammt viel Arbeit über einen sehr langen Zeitraum. Mit vielen Rückschlägen, vielen Plänen, viel üben daheim und viel notwendigem Verständnis von Familie und Freunden. Aber mir war es immer super wichtig, dass Carlo mit Menschen "ok" wird. Super wichtig ist auch die Untertreibung des Jahrhunderts, das war das einzige Ziel, das ich mit Carlo wirklich erreichen wollte, weil ich Menschen mag und nicht will, dass von meinem Hund für immer so eine Gefahr ausgeht, wie zu Beginn unseres Weges.
Es wird mit ihm nie so sein, dass ich komplett ohne auf ihn zu achten, total entspannt mit Besuch interagieren werde, dafür vertraue ich ihm nicht genug (und werde ich hoffentlich auch nie). Aber das Management ist über die Jahre weniger, subtiler geworden und in Fleisch und Blut übergegangen.
Eine Trainerempfehlung hab ich nicht für dich, aber ich mag dir Mut machen, dass sehr, sehr viel möglich ist, wenn man dran bleibt und ordentlich trainiert :)