Hier ein Paper aus 1983, dass sich mit verschiedenen Aggressionsformen des Hundes befasst und "redirected aggression" aufführt. Also so jung ist dieser Begriff nicht
Lesen und Verstehen sind zwei Paar Schuhe ... "redirected Aggression" ist nicht gleich "rückgerichtete Aggression".
Mit „rückwärts gerichteter“ bzw. rückgerichteter Aggression bzw. „der Hund dreht sich um“ ist meines Verständnisses nach gemeint, dass der Hund sich in dem Moment, in dem ihm durch äußere Behinderung verwehrt wird, an den eigentlichen Aggressionsauslöser zu gehen, sich gegen den wendet, der ihn behindert. Also üblicherweise den Menschen am anderen Ende der Leine. Es ist ein bildlicher Begriff für die Art, wie Aggression ausgeübt wird, keine „eigene Form“ von Aggression.
Das "üblicherweise" kann getrost gestrichen werden - bei der Entstehung dieses Begriffes ging es um Hunde, die sich gegen ihren Halter wendeten, der sie hinter ihnen stehend mit Leine daran hinderte, das eigentliche aggressionsauslösende Subjekt anzugehen.
Da wurde übrigens sorgsam unterschieden, ob der Hund im Hormonhoch völlig drüber nach allem schnappt, was er kriegen kann, oder sich gezielt gegen den hemmenden Halter wendet und nur Letzteres wurde als rückgerichtete Aggression bezeichnet.
Genau so macht es Sinn, denn die Ursachen sind unterschiedlich.
Da haben wir einen unterschiedlichen Begriff von „Normalität.“ Es ist nicht üblich, aber mMn gehört es zur ganz normalen Verhaltensspannbreite eines Beutegreifers dazu, beim Hund je nach Selektionszweck mehr oder weniger gehemmt.
Zunächst zum "Selektionszweck": Durch den Menschen durchgeführte Selektion auf bestimmte Merkmale führt zu Veränderungen, wird diese Selektion auf Verhaltensmerkmale gerichtet, ändern sich auch die "Normen" für dieses Verhalten.
Dazu sollte tatsächlich der Begriff "Normalität", in Bezug auf Verhalten, also das, was normalerweise, üblicherweise als Verhalten gezeigt wird bei der Gesamtpopulation von Hunden ohne Übertypisierungen betrachtet werden.
Dass bei bestimmten Selektionszielen Merkmale gehäuft (also signifikant verstärkt) auftreten, die bei einer Betrachtung der Gesamtpopulation nicht als normales, übliches Verhalten erscheinen, macht diese verstärkt bei diesem Selektionsziel gezeigten Verhaltensmerkmale nicht normal.
Vermutlich schwer verständlich, deshalb versuche ich mal nachvollziehbare Beispiele:
Nur weil bei brachyzephalen Rassen Atemgeräusche verstärkt auftreten, macht es diese Atemgeräusche nicht normal.
Nur weil bei Rassen mit Riesenwuchs starke Probleme mit dem Bewegungsapparat und eine deutlich verkürzte Lebensspanne verstärkt auftreten, macht es weder Probleme mit dem Bewegungsapparat noch die kurze Lebensspanne normal.
Nur weil bei Selektion auf Artgenossenaggression verstärkt Aggression gegenüber Artgenossen auftritt, macht es Artgenossenaggression nicht normal.
Ist das verständlicher?
Aus vorigem Zitat:
"aber mMn gehört es zur ganz normalen Verhaltensspannbreite eines Beutegreifers dazu, beim Hund je nach Selektionszweck mehr oder weniger gehemmt."
Das es zur Verhaltensspannbreite mit dazugehört, liegt an dem überaus hoch entwickelten Sozialverhalten von Hunden (hier müsste man eigentlich wieder den Ursprung dieses Potentials an Sozialverhalten mit einbringen, eben wölfisches Sozialverhalten, aber das sprengt den Rahmen).
Dennoch gibt es in dieser Spannbreite eine Häufung von üblichen Verhaltensweisen, die als "normal, im üblichen Rahmen" angesehen werden können.
Ganz ehrlich - wenn es normales Hundeverhalten wäre, dass der eigene Hund sich gegen seinen Halter wendet bei Hemmung aggressiven Verhaltens ... würden Hunde nur noch im Zoo betrachtet werden können, aber nicht mehr in menschlichen Haushalten leben.