Bin jetzt durch mit Arundhati Roys "Das Ministerium des äußersten Glücks".
Nachdem "Der Gott der kleinen Dinge" ja eins meiner absoluten Lieblingsbücher ist (hatte ich vielleicht schon das ein oder andere Mal hier erwähnt
), habe ich lange gezögert, das "Ministerium" zu lesen, das Roy 20 Jahre später geschrieben hat (dazwischen übrigens keine Romane, "nur" politische Essays usw., die ich aber nicht kenne). Mit einem politischen Roman hatte ich bei der Autorin aber auf jeden Fall gerechnet.
"Der Gott..." behandelt und kritisiert indirekt hauptsächlich das Thema Kastenwesen in Indien anhand des Schicksals zweier Kinder, ihrer Mutter und deren Liebhaber. Ganz übersichtlich, wunderschöne Sprache.
"Das Ministerium..." ist da schon ähnlich und doch ganz anders.
Die Geschichte beginnt mit Anjum, die als Hermaphrodit geboren wird und als Junge aufwächst, von zu Hause wegläuft, sich mehr schlecht als recht umoperieren lässt, jahrelang in einem besetzten Haus mit Leidensgenossinnen wohnt und schließlich aufgrund eines Vorfalls auf den städtischen Friedhof 'umzieht'. Dort errichtet sie auf und um Gräber herum eine Zuflucht, eine Art Gästehaus für alle Ausgestoßenen der Gesellschaft. Sie und die anderen dort bestatten auch Menschen, die sonst niemand beisetzen würde.
Der zweite Teil der Geschichte wird erzählt aus der Sicht von vier Leuten, die sich aus dem Studium kennen (ein Journalist, ein Kashmiri auf der Flucht, einer beim Nachrichtendienst, eine Architektin).
Am Ende...
werden mehr oder weniger alle Personen auf Anjums Friedhof-Zuflucht zusammengeführt.
Die vielen Handlungsstränge und unzähligen indischen Personen- und Ortsnamen haben mich leicht den Überblick verlieren lassen. Viele Sprüche, Lieder, Gedichte usw. sind in Originalsprache abgedruckt, ob Hindi oder Urdu, und darunter übersetzt (oder auch nicht). Die vielen komplexen Themengebiete, z.B. der Kashmir-Konflikt, religiöse Konflikte wie die Verfolgung von Muslimen, Transgendertum, Kastentum, die Rolle der Geschlechter generell usw., erzeugen einen Eindruck von Chaos.
Die unterschiedlichen Blickwinkel der Protagonisten werden durch unterschiedliche Sprech- und Denkweise und Motive überzeugend dargestellt.
Bekannt aus "Der Gott..." war mir die poetische, sehr metaphernreiche Sprache der Autorin. Schlimme Grausamkeiten, Darstellungen von Folter und Tod, werden nebenbei erwähnt oder poetisch umschrieben (oder teilweise auch einfach explizit erwähnt). Sie sind einfach immer da; die Protagonisten leben damit. Man hat das Gefühl, Roy möchte auch den/die Leser/in dazu zwingen. Es ist eine unbequeme Situation; Roy möchte einen anscheinend überfordern und in das Chaos, das sie errichtet, hineinwerfen. Ich bin mir sicher, dass es so gewollt ist, dass man sich als Leser/in oft überfordert fühlt.
Insgesamt ist das Buch nichts für Zartbesaitete. Wer damit leben kann und zum Nachdenken gezwungen werden möchte, dem kann ich es empfehlen. Man bekommt auf jeden Fall einen guten Einblick, ein Gefühl für Indien und seine vielen Seiten. Ich könnte aber auch verstehen, wenn man es genervt nach der Hälfte weglegt und bin mir selbst noch nicht sicher, ob ich es nochmal lesen würde.
Es ist sehr viel 'schwieriger' als "Der Gott..." (welches ich bedingungslos allen empfehlen würde).
Eine kleine Passage, um einen zumindest winzigen Einblick in den Roman zu erlangen:
Ein paar Kilometer entfernt von der Stelle, an der sie wach lag, waren am Abend zuvor drei Männer von einem Lastwagen überfahren worden, der von der Straße abgekommen war. Vielleicht war der Fahrer eingeschlafen. Im Fernsehen hieß es, dass in diesem Sommer Obdachlose am Rand stark befahrener Straßen schliefen. Sie hatten herausgefunden, dass die Dieselabgase der vorbeifahrenden Lkws und Busse ein wirksames Insektenschutzmittel waren und sie vor einem Ausbruch von Denguefieber schützten, dem bereits mehrere Hundert Menschen in der Stadt zum Opfer gefallen waren.
Sie dachte an die Männer: Neuankömmlinge in der Stadt, Bauarbeiter, nach Hause gekommen zu ihrem im Voraus gebuchten, im Voraus bezahlten Platz, dessen Miete sich anhand der optimalen Dichte der Dieselabgase geteilt durch die hinnehmbare Dichte von Moskitos berechnete. Präzise Algebra; nicht leicht zu finden in Schulbüchern.
Die Männer waren erschöpft von der Arbeit auf der Baustelle, ihre Wimpern und Lungen weiß vom Staub der Steine, die sie schnitten und verlegten in den vielstöckigen Einkaufsarkaden und Wohnhäusern, die um die Stadt herum in den Himmel schossen wie ein schnell wachsender Wald. Sie breiteten ihre weichen, fransigen gamchhas auf dem harten Gras des Abhangs aus, der gesprenkelt war mit Hundescheiße und Skulpturen aus rostfreiem Stahl - öffentlich zur Schau gestellte Kunstwerke, gefördert von der Pamnani-Gruppe, die topaktuelle, rostfreien Stahl verarbeitende Künstler unterstützte in der Hoffnung, dass die topaktuellen Künstler die Stahlindustrie unterstützen würden. Die Skulpturen sahen aus wie die Klumpen von Stahlspermien, vielleicht sollten es auch Ballons sein. Es war nicht klar. Jedenfalls sagen sie lustig aus. Die Männer zündeten sich letzte Beedis an. Rauchringe schwebten in die Nacht. Im Neonlicht der Straßenlampen sahen das Gras metallisch und die Männer grau aus. Es gab ein bisschen Gespött und Gelächter, weil zwei der Männer Rauchringe formen konnten und der dritte nicht. Er war der Langsamste, lernte immer alles als Letzter.
Der Schlaf kam rasch und leicht über sie wie Geld über Millionäre.
Wenn sie nicht durch den Lkw gestorben wären, wären sie gestorben an:
a. Denguefieber
b. Hitze
c. Beedi-Rauch
oder
d. Steinstaub
Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht wären sie aufgestiegen zu
a. Millionären
b. Supermodels
oder
c. Dienststellenleitern
Roy, Arundhati (2017). Das Ministerium des äußersten Glücks, Fischer, Frankfurt am Main, S. 323f.