"Ich ist wer anderer. Mein Leben mit komplexer PTBS" - Sabine Wild
(CN: sexuel*e Gewalt, Mis*brauch)
Sabine wird schon als kleines Mädchen vom eigenen Vater sexuell missbraucht - um die Übergriffe zu überleben, dissoziiert sie. Körper und Geist können das Erlebte nur ertragen, indem verschiedene Persönlichkeitsanteile entstehen, um mit den Traumata irgendwie zurechtzukommen. Durch die entstandenen Zeit- und Erinnerungslücken wirkt Sabine auf ihr Umfeld chaotisch, rebellisch, unehrlich - dabei ist sie nur ein verzweifeltes, einsames Kind. Als Jugendliche schafft sie es nicht mehr, regelmäßig die Schule zu besuchen, wird teils in Heimen untergebracht, in denen sie auf wenig Verständnis stößt, stattdessen wird sie bestraft, unter starke Medikamente gesetzt, gedemütigt. Der Einstieg in ein geregeltes Arbeitsleben gelingt Sabine aufgrund der Folgen des Missbrauchs nicht - sie erlebt weitere Schicksalsschläge, darunter den Su*zid der Mutter, als sie siebzehn Jahre alt ist. Sie landet in dysfunktionalen, gewalttätigen Beziehungen, kommt mit Drogen in Berührung, lebt zeitweise in bitterer Armut... Doch trotzdem gibt Sabine, die erst im Erwachsenenalter herausfindet, dass sie eine Dissoziative Identitätsstörung hat, nicht auf, rappelt sich auch nach der x-ten Enttäuschung, trotz multipler traumatischer Ereignisse wieder auf - und berichtet davon in ihrem eindringlichen, sehr nahegehenden Erfahrungsbericht - dabei thematisiert sie nicht nur den jahrelangen Missbrauch an sich, sondern auch die oftmals fehlende Unterstützung des Umfelds und das gesellschaftliche Versagen, Opfer zu schützen und zu stärken.
"Ich ist wer anderer" ist ein eindrucksvolles und mutiges Werk über das Leben mit einer Dissoziativen Identitätsstörung bzw. komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung fernab von Hollywood-Klischees über diese "Störungs"bilder (im Grunde handelt es sich um in Extremsituationen notwendige Überlebensmechanismen) und über die zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen traumatisierte Menschen häufig ihr Leben lang immer wieder konfrontiert sind. In klarer Sprache vermag die Autorin es, aufzurütteln, aufzuzeigen, aber auch - Hoffnung zu spenden, dass ein Weiterleben nach dem Überleben möglich ist, dass die menschliche Resilienz auch unglaubliche Tiefen überwinden kann - und dass man trotz widrigster Umstände doch noch zu Zufriedenheit, sogar zu einer gewissen Lebensfreude finden kann.