Ende des 19. Jahrhunderts gab es diesen Reinheitswahn in der Form sicherlich noch nicht, obwohl es zu dem Zeitpunkt bereits erste Rassezuchtverbände gab.
Aber sicher gab es den - gerade dann! Seit der Gründung des Britischen Empires stand man immer wieder vor der Frage, was die Menschen unterscheidet - was den einen zum Herren und den anderen zum Sklaven macht. Mindestens seit dem Mittelalter ging man in Europa davon aus, dass sich Charakterzüge im Aussehen eines Wesens ablesen lassen. Lavater, ein Schweizer 'Wissenschaftler', hatte die grossartige Idee, dass das auch durch eine anatomische Betrachtung des menschlichen Schädels möglich war und schrieb seine Ideen nieder. Menschen wurden bis nach dem zweiten Weltkrieg relativ skrupellos in Rassen unterteilt. Darwins Veröffentlichungen (und andere Abhandlungen zum gleichen Thema) taten dann ihr Übriges, die Angst vor der Unreinheit des Blutes zu fördern.
Gerade in Grossbritannien herrschte nicht nur die Vorstellung, dass man sich grundlegend als Menschheit immer verbessert, sondern dass man sich durch eine Durchmischung als Gesamtes verschlechtert. Pures Blut war also wichtig - nicht nur in der Königslinie und unter den Adeligen, sondern plötzlich auch bei deren Spielzeugen: den Pferden und Hunden. 'Bastarde' - aussereheliche oder 'fremdblütige' Nachkommen sind in dieser Gedankenwelt kein moralisches Problem, sondern sind unerwünscht, weil sie die 'Reinheit' einer Blutlinie beschmutzen. So wurden Pferde, aber vor allem Hunde (weil sie sich schnell reproduzieren und viele Nachkommen zeugen) zum Spielplatz der Reinblütigkeit: die Inzucht wurde in der Tierzucht als die Stabilisierung des reinen Blutes betrachtet. Fielen dann plötzlich kranke Hunde, wurde das darauf geschoben, dass das ein Produkt des 'unreinen' Blutes ist und einer der Partner eben (noch) unrein. Genauso wurde davon ausgegangen, dass sich 'reinrassige' Tiere niemals mit Mischlingen paaren durften, weil das reinrassige Tier dann für immer und ewig beschmutzt wurde und keine reinen Nachfahren mehr produzieren konnte. Welche - für heutige Verhältnisse merkwürdigen - Ideen bezüglich Verwandtschaft herrschten, zeigte sich zum Beispiel in Gesetzen, die besagten, dass es Inzucht und deshalb verboten sei, wenn ein Mann die Schwester seiner (zum Beispiel verstorbenen) Ehefrau heiraten wollte. Wieder: der Grund ist nicht moralisch, sondern medizinisch.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts existierte in den Städten eine genügend grosse Bourgeoisie, welche die Musse und das Geld hatte, sich Hunde aus Vergnügen zu halten. Der Adel wurde weniger wichtig und die früher strikt getrennten Schichten der Gesellschaftspyramide wurden plötzlich durchlässig und teilweise ganz aufgelöst. 'Reinrassige' Hunde waren plötzlich nicht mehr das Privileg der Elite, sondern je nach Image, das man sich geben wollte, konnte man sich nun den entsprechenden Hund besorgen. Daraufhin entbrannte - zusammen mit dem Interesse an der Idee des 'reinen Blutes' - ein wahrer Rassenwahn. Ab dann wurden 'Rassen' systematisch registriert, fotografiert, standardisiert und phänotypisiert.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand bei vielen Rassen nicht nur die Funktionalität nicht mehr im Vordergrund, bei manchen spielte sie sogar gar keine Rolle mehr, siehe diverse Schoß- und Begleithunde.
Es ist ein Mythos, dass alle Hunde bis vor kurzer Zeit noch eine Aufgabe ausserhalb des Hauses hatten. Schosshunde gab es schon bei den Ägyptern, den Römern und wahrscheinlich noch viel früher. Die Frage ist, wie man 'Funktionalität' definiert. Meiner Meinung nach ist 'Schosshund' oder 'Familienhund' durchaus eine ernst zu nehmende Aufgabe und die dafür benötigten Eigenschaften können durch Zucht beeinflusst werden. Nur leider ist der Ruf des 'Familienhundes' offenbar kein guter und nur wenige scheinen aktiv daraufhin selektieren zu wollen - selbst wenn ihre Rasse von 95% der Besitzer genau so gehalten wird.
Ich behaupte jetzt einfach mal, dass es auch schon früher kranke und körperlich untaugliche Hunde gab, die genetische Basis dazu muss ja irgendwo herkommen. Der Unterschied ist eben nur, dass damals als Gebrauch noch über allem stand, solche Hunde eben nicht durchgepäppelt und später hochpremiert und in die Zucht geschleift wurden. Die hat man entweder bereits in Welpentagen ersäuft oder später auf diverese Weise unter die erde gebracht.
Bei 'echten' Gebrauchshunderassen sicher. Aber im Falle des Neufundländers: Gebrauch wofür? Sobald der Neufundländer kommerzialisiert und im grossen Stil nach England gebracht wurde, war Schluss mit Fischnetzen einsammeln - es ging rein darum, 'so einen' Hund zu halten. Dasselbe passierte mit dem Bernhardiner, der in seiner heutigen Form eine komplett englische Kreation ist. Kein Mensch hatte auch nur das geringste Interesse daran, einen Neufundländer oder einen Bernhardiner zum 'arbeiten' nach England zu holen. Es ging um nichts anderes als um das, worum es heute in den meisten Fällen auch geht: man will genau 'einen solchen' Hund - aber sicher nicht zum arbeiten. Arbeit ist für den Pöbel - nicht für einen Rassehund.