Lang, länger, mein nächster Beitrag:
Ja, den Eindruck habe ich auch. Also, er will gerade etwas und versucht es halt durch dieses Verhalten (vor mir) in Gang zu setzen. Gleichzeitig war Bewegung (als Welpi ist er durchgehend "rumgewuselt", draußen hat er Anspannung gern durch Rennen kompensiert), immer ein Ventil um mit Stress umzugehen.
Ja, dieser im Grunde genommen zutiefst verunsicherte Hund versucht verzweifelt Kontrolle über diese ihn ständig überwältigende Welt zu gewinnen. Das sind Tiere, die die Welt nur verkraften, wenn sie sie in Ritualen durchleben können. Es ist mir auch sehr wichtig hervorzuheben, dass das mit Dir als Hundehalter selbst im Grunde nichts zu tun hat. Du musst nun leider - wie Eltern mit einem ADHS-Kind - lernen, damit zu leben und ihm den Stress zu nehmen. Diese Hunde sind Verhaltensketten-Junkies, typische Neurotiker - wenn sie Menschen wären wären sie wohl furchtbar abergläubisch ('wenn ich drehe, gibt's schneller Fressen') - weil sie eben dauernd irgendwelche Verhalten abspulen um die Welt auszuhalten und irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Genau das kannst Du Dir aber zu Nutze machen: je mehr Rituale Du diesem Hund zeigen kannst, desto einfacher und stressfreier wird es für ihn werden.
Diese Hund 'denken' zu viel, sind kreativ aber beobachten häufig eher wenig und leben für Aussenstehende in ihrer eigenen Welt. Man muss ihnen vermitteln: 'Nein, schau, Du brauchst jetzt gar nicht zu denken, jetzt spulen wir das Morgenritual ab.' Dieses verläuft (für den Hund) immer genau gleich und sollte peinlich genau eingehalten werden, sonst fängt er wieder an, selbst kreativ zu werden. Gerade weil sie so auf Rituale stehen, kann man ihnen aber relativ einfach irgendwelche Verhaltensketten beibringen. Von Morgens bis Abends sollte für so einen Hund das Leben ausschliesslich aus einem Ritual nach dem anderen bestehen. Öffnet er morgens die Augen, sollte er schon wissen: aha, jetzt folgt das erste Morgenritual. Das wird ihm die nötige Sicherheit geben.
Deswegen war ich mir oft sehr unsicher, ob man das Bewegen mit etwas statischem (sitz, platz, anbinden, weißderGeier) ersetzen soll, weil es ihm ja scheinbar doch irgendwie hilft.
Ich hatte ehrlich gesagt auch Angst, dass dieses, ich nenne es mal "deckeln" der Anspannung zu noch schlimmeren Ergebnissen führt.
Mittlerweile schafft Odin es ja in den meisten Situationen, besser mit Stress umzugehen, so dass ich ihn durchaus absitzen und abkühlen lassen kann, ohne dass er dabei platzt. Die Futtersituation ist für mich aber immer noch so ein Grenzfall, wo ich nicht weiß, ob ich ihm das so zumuten darf, (also, das sitzen und warten, meine ich), oder ob es das für ihn noch schwerer macht und vielleicht irgendwann kippt.
Dein Instinkt ist völlig richtig: jegliche Form von Druck oder 'Deckeln' wird das stereotypische Verhalten verstärken. Dieser Hund muss ganz, ganz viel kleinschrittigste Bestätigung erhalten. Er sollte gar nicht die Möglichkeit bekommen, irgend etwas falsch zu machen. Schau Dir mal ein paar Videos von guten(!) Clickertrainern auf Youtube an (zum Beispiel Shirag Patel oder Emily Larlham) und beobachte, wie die Belohnungsintervalle so häufig sind, dass der Hund gar keine Fehler machen kann. Diese Intervalle kannst Du nach und nach verlängern. Dazu brauchst Du nicht mit dem Clickern anzufangen, es reicht, wenn Du siehst, wie häufig da belohnt wird. Was ich mit so einem Hund nicht machen würde (bzw. nicht, solange die Kreiselthematik noch besteht) ist Verhalten shapen. Ich würde ihm klar sagen, was er zu tun hat und es ihn nicht selbst herausfinden lassen. Das erzeugt nur weiteren und völlig unnötigen Stress.
Wie im ersten Beitrag schon gesagt: Odin wird ein herrlicher Gradmesser für Dich sein, ob Deine Anweisungen klar, die Belohnungsintervalle häufig genug und der Druck tief genug sind. Kreiselt er, waren sies nicht. Ihm allerdings alle Freiheit der Welt zu lassen, ist aber eben auch keine Alternative: er braucht ja dringend liebevolle Struktur.
Sinnvoll wäre es auch, ihm ein Verhalten dafür beizubringen, wenn er überfordert ist. Also anstatt merkwürdig herumzurennen könnte es für ihn (als Retriever) zum Beispiel hilfreich sein, einen bestimmten Gegenstand zu holen und zu Dir zu bringen. Stell Dir vor, Odin ist ein Beamter, der brav Tag für Tag das tut, was er soll, solange er eine klare Aufgabe hat. Hat er die nicht, macht er Unsinn und stresst sich unnötig. So ein aufgebautes Verhalten oder eben Ritual hat mehrere Vorteile: er hat eine ganz klare Idee davon, was man in 'schwierigen' Situationen tun kann und ist beschäftigt. Er weiss aber auch, dass das, was er tut 'richtig' ist und er von Dir Lob oder eben ein Leckerli erhält. Richtig aufgebaut wird er das Verhalten schliesslich auch ganz ohne Kommando zeigen, wofür Du ihn natürlich nach wie vor loben kannst und sollst.
Also soll ich ihn durchaus sitzen lassen? Meine Handlung abbrechen, wenn er damit anfängt, ist eben nicht immer machbar. Er zieht das auch bis ins unendliche und es wird ihm nicht so schnell langweilig, es doch wieder zu versuchen. Morgens muss ich aber irgendwann zur Arbeit und kann nicht ewig warten, bis wir das durchexerziert haben. Im Endeffekt hat er dann ja doch Erfolg. Futter könnte ich auch mal komplett ausfallen lassen, aber Pipi (also, rausgehen) muss er ja so oder so.
Eben. Deshalb ist es - ausser man hat den ganzen Tag Zeit - nicht sinnvoll, ihm klar zu sagen, was Du gerne von ihm hättest als ihn selber ausprobieren zu lassen, bis er die (Verhaltens-)Nadel im Heuhafen findet, die wir suchen. Genau dieses 'es bis ins Unendliche' ziehen zeigt ja noch einmal deutlich wie weit es mit dieser Stereotypie ist. Um Dir einen Vergleich zu geben mit welcher Art von Verhalten wir es hier zu tun haben: andere Hunde beginnen sich in solchen Situationen selbstzerstörerisches Verhalten zu zeigen, sich die Pfoten, die Seiten oder die Rute zu lecken, einfach weil sie mit dem Stress nicht klarkommen. Noch einmal: dass das Tier so stressanfällig ist, hat nichts mit Dir zu tun, es ist nicht Deine 'Schuld', sondern hat mit seinem eigenen Nervenkostüm (und, ich sage es ungern, aber wahrscheinlich der (Auf-)Zucht...) zu tun.
Ja, naja, irgendwie haben sie ja doch ein Ziel
Er dreht ja nicht unvermittelt aus Langeweile, sondern schon situationsbedingt, wenn er das Rausgehen oder Fressen von mir erwartet. Er beobachtet mich dabei genau und bricht es auch sofort ab, wenn ich entweder an ihm vorbei gehe, oder doch zum Futtersack.
Eben. Er ist abergläubisch. Und das meine ich völlig unironisch.
Ja, neu ist mir das ja auch nicht... er ist halt in allem sehr komplex.
Ich habe den Rest der Woche Urlaub und kann die Morgene anders gestalten.
Wird nicht reichen, um eine 180° Wendung hinzulegen, aber nach euren Anregungen habe ich mir nun
Ja, diese Art von Hund ist nicht einfach. Es macht sie häufig zu fantastischen (wenn auch komplett neurotischen) Arbeitern und Sportlern, denn 'einmal Ritual, immer Ritual', aber sie sind als Familienhund (man möge mir verzeihen) a right pain in the backside.
Wenn Du möchtest, kannst Du ab sofort eine 180° Wendung hinlegen. Es liegt alleine an Dir, ob Du die Erwartungshaltung, die Du an Deinen Hund stellst, klar genug formulieren kannst. Als letzten Tipp: Erwartungshaltungen formuliert man besser in positiver Form (der Hund soll auf seinem Platz sitzen und sich ruhig verhalten) und nicht in negativer Form (der Hund soll nicht herumrennen und mich nicht nerven).