Ich habe auch so einen Stresskeks hier. Gottseidank ist sie kein "echter" Stadthund, denn wir wohnen am Stadtrand und unsere langen Gassirunden finden im Grünen statt. Mein Büro ist zwar nahe an der Innenstadt, aber ich bin nicht gezwungen, sie in die Stadt mitzunehmen - ich mache das nur, wenn ich topfit, entspannt und gut drauf bin. Denn man braucht gute Reflexe und viel Geduld mit diesem Hund.
Ich gehe trotzdem so oft wie möglich zu Trainingszwecken durch die Stadt und befahrene Straßen entlang, weil mein Hund mit Verkehr, Geräuschen und Menschen anfangs überhaupt nicht klar kam. Auch nicht in ruhigen Wohnstraßen. Ich nehme sie daher wann immer möglich auf Botengänge und zu kleinen Besorgungen mit. Ich kann dabei die Intensität der Stressigkeit variieren (zum Bäcker ist easy, zur Hauptpost am Bahnhof die Königsdisziplin). Anfangs waren auch die einfachen Strecken oft genug die Hölle für den Hund, weil ich nun mal nicht immer vorhersehen kann, ob irgendwo jemand mit Rollkoffer langläuft, eine Fahne draußen hängt oder - Gott bewahre - ein Fahrrad umfällt.
Sie reagierte anfangs extrem auf Außenreize und war dann absolut nicht mehr ansprechbar. Völlig panisch, kompletter Tunnelblick, nur noch Flucht im Sinn. Ich habe Monate gebraucht, bis ich die schlimmsten Angstauslöser identifizieren und gezielt "entschärfen" konnte, weil man nicht unbedingt sofort drauf kommt, dass es das schreiende Baby im zweiten Stock bei offenem Fenster ist, dass den Hund zum Ausrasten bringt – und nicht etwa die Mülltonne da vorn oder der bellende Hund im Nebenhaus oder dieser komisch aussehende Fleck auf der Straße… alles war potentiell verdächtig.
Mein Plan, sie durch dieses ständige Training insgesamt etwas entspannter werden zu lassen, ist schon irgendwie aufgegegangen - aber es hat viele, viele Monate lang gedauert und der Prozess ist noch nicht zu Ende. Wenn ich mal vier Wochen lang die Trainingsrunden ausfallen lasse, merke ich sofort, dass sie wieder nervöser ist.
Die Leinenführigkeit hängt bei Jil eng mit dem Stresspegel zusammen und war deshalb in den ersten beiden Jahren eine Vollkatastrophe. Inzwischen ist das deutlich besser geworden, aber nach einer halben Stunde "Straße entlanglaufen" ist der Hund am Ende mit den Nerven und schmeißt sich wieder in die Leine. Da muss ich zusehen, dass ich sie nicht überfordere und rechtzeitig wieder in ruhige Straßen abbiege. Ein umfallendes Fahrrad kann sie inzwischen gerade noch verkraften, aber wenn dann noch irgendeine eine andere Kleinigkeit schiefläuft, war's das. Und dann kommt sie so schnell auch nicht wieder runter.
Ich habe natürlich trotz allen Trainings keinen gelassenen Hund. Auch, wenn sie nicht mehr ständig ausrastet, ist die Stadt eigentlich zu aufreibend für sie. Sie würde sich niemals im Straßencafé hinlegen. Im Restaurant kann es sein, dass sie irgendwann mal für eine Minute liegt, aber mehr vor Erschöpfung und nicht zur Entspannung. Ein kleines Geräusch und sie steht wieder. Aber die Ohren sind dabei vorn und der Hund ist eher interessiert als nervös. Und das ist ja schon mal was!