Noch zu „The Loney“: Hurley stellt ja zwei Zitate vor den Anfang seines Romans, die demnach eine besondere Bedeutung haben. Das erste steht im Mt 9, 32f, wo Jesus nach der Heilung eines Stummen von den Pharisäern angegriffen wird. Da sie nicht anerkennen können/wollen, dass Jesus dieses Wunder in der Kraft Gottes vollbracht hat, unterstellen sie ihm, in der Vollmacht des „Herrn/Obersten der Dämonen“, also in Satans Kraft, Wunder tut.
Im Roman befragt Vater Bernard den jungen Tonto nach den Ereignissen in Coldbarrow und schließt sich dann der Meinung der Pharisäer an: Die Wunder, die dort geschehen, haben nichts mit Gott zu tun (S. 328f), sind also satanischen Ursprungs - daher auch das Menschenopfer, die getöteten Babies. Diese werden von hochschwangeren Frauen verkauft und für rituelle Zwecke verwendet. Die junge Else hat zuvor bereits ein Baby in Coldbarrow bekommen und es gegen Geld Leonard und seiner Frau Laura überlasssen (S. 132). Die „Heilungswunder“ an Parkinson (Kehlkopfkrebs), Collier (zerstörte Hand), Leonard (Arthritis), Clements Mutter (Blindheit) und schließlich dem jüngeren Bruder von Tonto (Stummheit/geistige Behinderung) wurden in Analogie zu den Hauptwundern im Neuen Testament kreiert.
Das zweite Zitat stammt aus dem Gedicht „Die zweite Wiederkehr“ des großen Schriftstellers William Butler Yeats, geschrieben unter dem Eindruck des grausamen ersten Weltkriegs. Er greift eine mysteriöse Stelle aus dem Buch der Offenbarung Kapitel 13 auf, die u.a. von dem Tier aus dem Meer, dem sogenannten Antichristen, spricht. Dieses wird nun „neu geboren“, nachdem es gen Bethlehem gekrochen wird, also am Ort der Geburt Jesu.
Erstaunlich ist auch, dass vermutlich beide Brüder Theologie studierten (S. 322 bzgl. Tonto). Während der jüngere Bruder ein erfolgreicher Pastor und Autor wird, verbringt Tonto die meiste Zeit einsam in einem Museums-Archiv im Untergeschoss, „abgesondert von der Welt“ (S. 374), psychisch krank und ohne Glauben. Noch immer hat er das Bedürfnis, Hanny zu schützen. Während Tonto die Geschehnisse nicht erzählen will, hat Hanny nur sehr diffuse Erinnerungen, wird von „einer schrecklichen Schuld“ (S. 381) gepeinigt.
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Meines Erachtens ist es absurd anzunehmen, dass Hanny das Baby getötet hat, dessen Überreste gefunden worden sind. Schwer verletzt und bewusstlos wäre dies zuerst unmöglich, zumal sein sanftmütiges Wesen niemals jemandem etwas angetan hätte. Der Schuss, an den er sich erinnert (S.380), ist von Clement abgefeuert worden. Nach der „Heilung“ werden Lose gezogen, wer das „Baby“ beseitigt. Obgleich der noch völlig benommene Hanny das entsprechende Los zieht, geht Clement mit dem Gewehr los, nachdem beide Jungen mit Drohungen aus dem Haus geworfen wurden. (S. 366f)
Die Frage bleibt also, warum Tonto seinem Bruder nicht das drückende Schuldgefühl nimmt, obwohl er doch die Wahrheit kennt. Warum lügt er ihn sogar an, indem er von einer polizeilichen Befragung redet (S. 381. 383)?
Überleben ist das oberste Ziel, aber beide Brüder zahlen einen Preis dafür.