Hallo Henner,
Das ist eine tolle, ausführliche Antwort, mit der man ja schon mal was anfangen kann.
Wie Du ja selber weißt, ist die Sozialisierung bei Deinem Hund in die Hose gegangen, schlimmer kann es ja eigentlich gar nicht sein!
Schön, das Du Trainer gefunden hast, die nicht das achsobeliebte "Dominanzproblem" diagnostiziert haben.
Ich denke, dass ihr schon das Richtige probiert, aber offenbar ist der Reiz (unbekannte Menschen, Hunde, Sachen) zu groß, sodaß Rico keine Leckerchen annehmen kann oder auf Signale nicht reagiert.
Um das mal ganz klar zu sagen: Der Hund "überhört" die Kommandos tatsächlich - er hört sie buchstäblich nicht! In einer Angstsituation ist er so mit sich und dem Angstauslöser beschäftigt, dass Signale einfach nicht bis zum Gehirn durchdringen.
Versucht herauszufinden, wie groß die Distanz sein muß, damit Rico noch auf Signal sitzen kann und fangt dann genau in der Entfernung an. Wenn Du z.B. in der Nähe einen Park mit Leinenpflicht hast (und die Leute sich auch daran halten, kannst Du dort vielleicht einen Platz finden, an dem Du mit Hund weit genug von den Spaziergängern weg bist und wo die Euch auch nicht zu nahe kommen (mitten auf der Wiese / auf einer Parkbank eines Nebenweges, den kaum jemand benutzt...). Dort richtet Ihr Euch für eine Weile "häuslich" ein, vielleicht mit einer Decke, damit Hundi auch schön gemütlich hat, einem großen Vorrat an leckersten Leckerchen, viiiiiiiieeeel Geduld...
Euer "Job ist es dann, den Hund zu füttern, wann immer ein "Reiz" ins Blickfeld gerät. Meine Trainerin geht so weit, dass sie dem Hund die Reize ankündigt und zeigt, quasie: "Rico, schau, ein MANN!" und dann gibts Leckerchen. Oder: "Rico, schau, eine FRAU!" Leckerchen geben. Oder: "Rico, schau, ein HUND!"Leckerchen geben.... Minileckerchenbröckchen gibt es so lange wie der "Reiz" sichtbar ist, ist er weg, ist die Snackbar geschlossen. Am Besten kann man sowas mit Freunden üben, die die gewünschte Entfernung auch einhalten, bzw. andere Leute darum bitten können, nicht näher an Euch heranzugehen, damit Rico sich auch darauf verlassen kann, dass er nur mit "Reizen" konfrontiert wird, die er gerade händeln kann.
Nach einigen dieser Trainingssessions sollte es möglich sein, den Abstand zum Reiz zu verringern.
Neben bei (zu Hause, oder wenn bei den Trainingssesions gerade kein "Reiz" sicht bar ist, könnt ihr auch Übungen (Sitz, Platz, Pfote, Drehen, Rolle, Winken, HighFive, Springen, was immer Euch einfällt) üben. Je mehr er davon kann (sowohl in Qualität als auch in Quantität), desto sicherer wird er sich auch bei "Reiz"-Lage fühlen. Denn: dadurch dass er gelernt hat, dass er mit seinem Verhalten (ausführen von Signalen) Euer Verhalten (Geben von Leckerchen) beeinflußen kann, desto Selbstsicherer wird er werden.
Durch das Leckerchengeben in Anwesenheit des "Reizes" verknüpft er das Ding, dass ihm Angst macht mit Angenehmen Sachen.
Dadurch wird NICHT die Angst bestätigt (Angst ist kein Verhalten sondern eine Emotion). Stell es Dir vor wie eine Wippe: Auf der einen Seite sitzt ein Hundert Kilo Monster - auf der anderen Seite NIX. Klar, wer Macht über die Wippe hat, oder? Mit jedem einzelnen Bröcken "angenehmes Gefühl (durch Leckerchen oder erfolgreiches Abspulen einer Übung) legst Du was auf die andere Seite der Wippe. Natürlich wird es einige Zeit dauern, bis die Wippe sich überhaupt bewegt. Und es ist überaus wichtig, dass in der Zeit, wo Ihr daran trainiert, nicht durch Unaufmerksamkein ein Rückschlag passiert, denn jeder Rückschlag wegt fast alle eure Pluspunkte wieder von der Wippe runter.
Wichtig wäre, dass Ihr genau auf die Körpersprache Eures Hundes achtet - je früher ihr seine Streßsituationen "aufziehen" seht, desto ehr könnt ihr gegensteuern, indem Ihr die Situation so verändert, dass sie für ihn händelbar bleibt.
Haltet die Trainingssituationen ehr zu kurz und versucht lieber mehrere über den Tag zu verteilen, oder macht zumindest eine Pause in der er sich richtig entspannen kann.
Entspannen: Führt ein Entspannungssignal ein (gib mal "Entspannungssignal" in die Suche ein - wie das geht habe ich schon mehrmals hier beschrieben).
Informiert Euch über TTouch und das Körperband - Falls Ihr letzte Woche auf Vox die Doku über Temple Grandin gesehen habt, werdet Ihr vielleicht wissen, dass Druck (z.B. durch das Körperband oder durch feste Massage, oder die Squeeze Machine) Entspannung erzeugt.
Versucht mit dem Clicker zu arbeiten (das Geräusch des Clickers ist in der Lage noch als Signal im Gehirn anzukommen, wenn schon kein Leckerchen mehr genommen werden kann, und auch kein "Sitz" mehr funktioniert. Karen Pryor meint, dass das daran liegen könnte, dass das Click in dem Teil des Gehirns verarbeitet wird, in dem die Angstgefühle entstehen. Wenn Rico den Clicker als Supergummijetztkommtwastolles-Signal aus dem tollen Training zu Hause kennt und liebt, habt Ihr beim Gegenkonditionieren und Desensibilisieren einen Trumpf in der Hand, der dem Wippenmonster einen herben Schlag versetzen kann - oder besser, viele, viele, viele kleine fiese Nadelstiche :wink: