Bindungsarbeit und Hundererziehung unter nicht ganz einfachen Bedingungen plus Fragen zu Schleppleinentraining

  • Hallo, ihr Lieben!
    Ich wollte euch um euren Rat bitten, da sich mir immer mehr Fragen stellen auf die ich keine Antworten finde...
    Ich habe einen 10-monatigen Rüden (Mutter Terrier-Mix, Vater Galgo Español), den ich im Alter von 4 1/2 Monaten bekommen habe. Er hat einen starken Jagdtrieb und ist wenig menschenbezogen, am liebsten würde er den ganzen Tag Fährten folgen oder mit anderen Hunden spielen. Seine persönliche Distanz ist riesig, z.B. beim Spazierengehen vorzugsweise 50-100 Meter (die ich inzwischen mit Schleppleine auf 10 Metern halte, was aber in Ziehen, Winseln, in die Luftschnappen und Stressgähnen mündet). Er bleibt nie bei mir, wenn ich ihn nicht an der Leine habe - wenn ich stehen bleibe, ihn aus dem Auto lasse, mit jemanden spreche... Nase auf den Boden und er wandert weg.
    Unsere Wohnsituation trägt leider auch nicht dazu bei, dass er sich stärker binden würde: wir wohnen in einem sehr kleinen spanischen Bergdörfchen, man könnte es fast als großes Anwesen mit vielen kleinen Gebäuden bezeichnen. Es ist nicht eingezäunt, drumherum gibt es nur wilde Natur, fast ohne Verkehr, wo höchstens mal ein 4x4 oder Motorrad vorbeikommen - aber Wildschweine, Rehe und anderes Wild. Die genutzten Häuser sind eigentlich alles Gemeinschaftsräume, die für Tiere tabu sind, d.h. entweder muss ich ihn in meinem 13 qm-Zimmer oder auf der Terasse einsperren oder ihn anbinden um ihn zu kontrollieren. Freilaufen im Dorf geht nur, wenn ich ebenfalls draußen bin und ihn im Auge habe, was aber 1. fast unmöglich ist, da er nicht in der Nähe bleibt und 2. kann es selbst dann passieren, dass er etwas Spannendes hört und auf den Berg düst. Letzteres ist bisher zum Glück nur 2-3 Mal vorgekommen, aber das ist auch schon viel zu viel :verzweifelt: Meist kommt er nach ein paar Minuten zurück, aber einmal war es auch länger.
    Noch eine viel größere Herausforderung sind aber die beiden Hündinnen, die hier leben und die seine besten Freundinnen sind. Die eine ist fast wild, vor 13 Jahren „dem Dorf“ zugelaufen und lässt sich erst seit ein paar Jahren überhaupt anfassen, die andere ihre Tochter, ein bezaubernder, lieber Hund, aber ebenfalls total unerzogen. Die beiden Damen leben draußen, ganz frei, und gehen oft zusammen auf die Pirsch und mein Kleiner hat es schon ein paar - wenige - Mal geschafft mit abzuhauen – obwohl ich neben ihm stand und ihn sofort zurückgerufen habe. Mit der Jüngeren könnte er stundenlang spielen und raufen. Aber selbst sie findet er uninteressant, wenn sie langsamer ist als er oder nichts Spannendes macht. Dann geht er wieder schnüffeln.
    Es ist mein erster Hund und aus Unwissenheit und Naivität und aufgrund falscher Ratschläge habe ich definitiv viele Fehler gemacht und ihm anfangs viel zu viel Freiheit gelassen, ihn z.B. oft ohne Leine laufen lassen („du musst deinem Hund vertrauen, der kommt schon wieder“). Ich habe mich viel zu sehr darauf verlassen, dass die Tipps der vielen HundehalterInnen, die hier leben richtig sind, aber inzwischen weiß ich, dass ich mich da sehr geirrt habe.
    So, ich musste ein bisschen ausholen, damit meine Fragen nachvollziehbarer werden und auch warum viele „normale“ Trainingsmethoden hier kaum umsetzbar sind.


    Ich will ihn nicht ständig in dem winzigen Raum einsperren oder anbinden, aber das bedeutet, dass er mal kürzer und mal länger unbeaufsichtigt durchs Dorf stromert, meistens schnüffelt er einfach alles ab. Ich rufe ihn dann immer mal wieder zu mir und meist kommt er auch, aber eben nicht immer. Mache ich mir bei jedem Nichthören das Kommando kaputt und sollte eigentlich ein neues aufbauen? Oder kann ich auch mit einem leicht „abgenutzten“ Kommando weitermachen? Meist weiß ich ungefähr, wo er gerade ist und rufe ihn inzwischen oft auch erst, wenn ich ihn sehe und mir sicher bin, dass er kommt.


    Wie kann ich unsere Bindung stärken und mich für ihn interessant machen, obwohl wir kaum (Wach-)Zeit in einem Raum haben und draußen eigentlich fast immer eine der anderen Hündinnen dabei ist? Hinzu kommt, dass er auch überhaupt nichts „haben“ will – Leckerlis sind okay, aber dafür was tun, nö. Futter interessiert ihn kaum. Spielzeug interessiert ihn auch fast nicht. Mal eine Zeitung zerfetzen, ja. Aber er klaut nichts, macht keine Beute, keine Socken, gar nichts, rennt keinen Stöckchen hinterher – wobei mir eine Hundetrainerin gesagt hat, dass Ballspiele und alles was quietscht eh tabu ist, um seinen Jagdinstinkt nicht zu fördern. Ganz selten lässt er sich mal animieren, ein paar Schritte lang an einem Stock zu ziehen. Aber sich mit Spielzeug bei ihm interessant machen – Fehlanzeige. Das einzige, was er gerne mag, ist ein alter Knochen - aber selbst den findet er nicht so spannend, dass er ihn klauen würde, obwohl er in seiner Reichweite liegt. Eigentlich lockt ihn nur frisches Fleisch (also gekocht) aus der Reserve...


    Wenn wir spazieren gehen, geht er an der Leine, je nach Wetter und Wegbeschaffenheit an einer der beiden kürzeren oder meist an der 10m-Schleppleine. Da hat er auch schon Fortschritte gemacht, aber heute z.B. haben wir unterwegs die beiden Hündinnen getroffen, die ihren Morgenspaziergang immer zu zweit machen, und dann wollte er nur noch zu den beiden. Resultat: winseln, jaulen, quietschen, sich mit dem ganzen Gewicht in die Leine schmeißen.


    In solchen Situationen frage ich mich, was besser ist: direkt umdrehen und raus aus der Situation? Einsperren kann ich die beiden anderen ja nicht... Auf dem Rückweg ist er alle paar Meter stehen geblieben um zu schauen, ob sie hinterherkommen – was sie nicht taten. Oder doch teilweise weiter versuchen, Kommandos zu trainieren? Ich bin noch ein Stückchen weitergegangen, aber musste alle 2 Schritte stehen bleiben, da er immer wieder sofort in die kurze 1,5m-Leine sprang. Wie schafft ihr es ruhig zu bleiben, wenn euer Hund sich wie ein Verrückter gebärdet? Ich muss gestehen, dass ich heute wirklich wütend geworden bin – hab ich nicht an ihm ausgelassen, aber Phantasien dazu hatte ich... :( Und ich weiß, er steckt mitten in der Pubertät und ich muss Geduld haben. Aber wenn ich sehe, wie er versucht, bei der jüngeren Hündin aufzureiten und sie ihn immer und immer wieder wegschickt, 10- oder 20-mal hintereinander und er es einfach nicht lässt, verliere ich manchmal die Hoffnung.


    Zum Schleppleinentraining in Situationen ohne Ablenkung hätte ich auch noch ein paar Fragen:


    Er läuft Richtung Ende der Schleppleine, ich gebe ihm das Kommando „Langsam“, was in etwa der Hälfte der Situationen zu einer Reaktion führt, wenn es aber nicht funktioniert, und er am Ende ankommt, bleib ich stehen und warte, dass er zu mir schaut. Wenn er zu mir schaut, lös ich das dann auch mit „Weiter“ auf? Oder nur, wenn ich ein Signal zum Anhalten gegeben habe? Und heute an der kurzen Leine, wo er alle paar Meter in der gespannten Leine hing: ich bleib stehen, gehe dann die 1,5 m in seine Richtung und löse dann mit „Weiter“ auf oder gehe ich dann einfach weiter, wenn ich auf seiner Höhe bin?


    Wenn er aufgeregt ist und schnell weiter will und ich aber stehengeblieben bin, dreht er sich an der gespannten Schleppleine kurz zu mir um, aber ohne wirklich zu schauen, und fast im gleichen Moment dreht er sich schon wieder zurück und will weiterlaufen. Dabei winselt er meist. Das tut er eigentlich immer, sobald er begrenzt ist. Ich gehe erst weiter, wenn ich das Gefühl habe, dass er mich wirklich wahrgenommen hat. Das dauert aber meist einen Moment, so dass er dann schon lautstark winselt. Oft läuft er auch winselnd auf mich zu ohne mich anzuschauen, dreht aber schon nach 1-2 Metern wieder ab, schnuppert an irgendwas, hebt das Bein oder läuft einfach den Radius der Schleppleine ab. Oder läuft winselnd auf den ersten Metern der Schleppleine hin und her, aber auch ohne mich anzuschauen. Ich bin unsicher, ob ich ihn dann ansprechen soll? Und wenn ja, wie? Signal zum Anhalten oder zum Aufhören des Winselns? Und die Idee ist doch, dass er von sich aus auf mich achtet ohne dass ich ihn anspreche, oder? Und bringe ich ihm - dadurch, dass er ja ständig winselt, wenn er sich umdreht und ich wegen des Umdrehens (=Kontaktaufnahme) weitergehe, nicht bei: winseln = weitergehen? Aber wie kann ich es anders machen? Und gibt es eine Möglichkeit, ihm dieses Winseln abzugewöhnen? Das macht er seit ich ihn kenne: begrenzt sein = winseln.
    Und versteht er, wenn er dann doch mal an der lockeren kurzen Leine oder lockeren Schleppleine läuft, was er richtig macht, wenn ich ihn lobe, obwohl das unterschiedlich weite Abstände von mir sind? :???:


    Und dann habe ich mich noch gefragt: mir wurde immer wieder gesagt, ich soll Lernmodus und Freizeitmodus beim Spazierengehen unterscheiden, jede Lektion mit einer positiven Erfahrung abschließen, Übungseinheiten nicht zu lange machen etc. Aber wird nicht alles automatisch zum Lernmodus und zu einer fortwährenden Übungseinheit egal, ob kurze Leine oder Schleppleine? Denn sobald er anfängt zu ziehen, wird es ja wieder zum Antiziehtraining, jeder Sprung in die Büsche wird zum Antijagdtraining. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Freizeitmodus aussehen kann, solange er noch so aufgeregt ist und hört...


    Puh, das war jetzt aber wirklich viel Text und viele Fragen... Ganz lieben Dank schon mal, ich freue mich wirklich über jeden Tipp!!! Wir werden sicher nicht für immer hier leben und ich will weder, dass er zurück in Deutschland wildert oder überfahren wird noch dass wir in ständiger Auseinandersetzung spazierengehen müssen. Und Hundeschulen gibt es hier in der Gegend nicht und auf die meisten „Erziehungs-“Methoden („du musst deinen Hund auf den Boden werfen und dominieren, wenn er nicht hört“) in meiner Umgebung möchte ich lieber verzichten.


    Viele liebe Grüße!!


    PS: das Internet funktioniert nicht immer gut hier, daher kann es sein, dass es manchmal ein bisschen dauert, bis ich auf auf Rückfragen etc. reagieren kann. Aber ich werde alles lesen und so schnell wie möglich antworten. Tausend Dank!!!

  • Hi,
    ganz schwierige Geschichte. Es gibt immer wieder Hunde, die sich vollständig in ihre Umgebung ergeben, und die ihren Jagdtrieb auch ausleben wollen. Manche davon sind immer an der Leine, weil sie sonst einfach weg sind. Podencos und Mischlinge dieser Rasse haben so was manchmal. Das Problem hier ist, dass Dein Umfeld nicht nur 100 prozentig seinen Vorstellungen entspricht, sondern auch dass Du ihn aufgrund Deiner eigenen Gegebenheiten quasi nur einsperren könntest, wenn Du ihn bei Dir haben willst. Und da, das schreibst Du selbst, sind die Bedingungen nicht optimal.
    Ich fürchte somit, Du hast den falschen Hund. Er wäre glücklicher wenn er so durchs Land ziehen könnte, wie die beiden anderen. Ich würde versuchen an der Bindung etwas zu arbeiten, ihm ein Zuhause zu geben, aber ihn ansonsten ziehen lassen. Er wird klarkommen wie die beiden anderen auch.
    In Deutschland wär das natürlich alles undenkbar, er wäre hier aber auch nicht glücklich.


    Nur meine Meinung..


    LG


    Mikkki

  • Augen auf bei der Hundewahl.......


    Ich weiß nicht in welchem Land du dich aufhältst, je nachdem wäre ich da ganz bei @Mikkki, für manchen Hund ist nichts wertvoller, als die Freiheit. Entweder kommt er am Abend zurück zu dir, oder er ist glücklicher ohne Menschen.


    Aber bitte bring den Hund nicht mit zurück nach Deutschland, so einen Hund rettet man nicht, indem man ihn gefangen hält.

  • Hi,


    sie schrieb von einem kleinen abgelegenen spanischen Bergdörfchen, ich interpretiere quasi ohne Strassenverkehr und sehr wenig Besuchern...


    LG


    Mikkki

  • Vielen Dank schonmal für eure Einschätzungen! Ja, der Gedanke kam mir auch schon, dass das nicht der richtige Begleithund ist...
    Er wurde bei einer Bekannten auf der Finca in Südspanien geboren, der die Mutter drei Wochen vor der Geburt zugelaufen war. Plötzlich hatte sie 8 Hunde - die Mama und 7 Welpen. Ich habe ihn ausgesucht als er gerade ein paar Stunden alt war, konnte ihn dann aber erst zu mir nehmen als er 4,5 Monate alt war. Er war auch von Beginn anders als seine Geschwister, auf der Finca hat er schon immer alles stundenlang untersucht, erschnüffelt, sie beschrieben ihn als Dichter und Denker.
    Aber wenn ich hier aus unserem Dorf mal weggehen sollte, kann ich ihn ja nicht einfach hierlassen... Und es ist ja auch nicht so, dass wir gar keine Bindung hätten - er kuschelt gerne und lernt ja auch, wenn auch mit viel Überreden. Und seit wir intensiv mit der Schleppleine arbeiten, läuft er mir im Dorf auch immer mal wieder eine Weile hinter mir her.
    Klar, ich will auch, dass er ein glückliches Leben hat - aber könnte das nicht auch in Deutschland möglich sein, natürlich nicht mitten in der Stadt, und mit sehr viel liebevoller Erziehung. Er ist ja noch sehr jung...

  • spanischen Bergdörfchen

    das "spanischen" hatte ich überlesen.

    dass wir gar keine Bindung hätten

    Das habe ich auch nicht behauptet, die Frage ist nur was ihm lieber ist. Ein Leben mit dir in Gefangenschaft oder ein Leben in Freiheit. Ich wüsste das nicht und möchte auch nicht in deiner Haut stecken bei der Entscheidung.

  • Ich würde den Hund so nehmen wie er ist denn solange es da beim Spaziergang immer wieder Rückschläge wegen frei lebender Hunde gibt, wird alles Üben nichts bringen.
    Je nach Umgebung würde ich ihn vllt. sogar mitlaufen lassen und ansonsten auch nicht zu sehr einsperren. Dieser Hund wird m.E. in deinem Umfeld mit "deutscher" Hundehaltung nicht glücklich, der sollte so gut wie möglich "spanisch" leben dürfen.

  • Wahrscheinlich sollte ich ähnlich wie bisher weitermachen, mit viel Freiheit im Dorf, aber auf den Spaziergängen leichtes Training aufrechterhalten - denn solange die anderen beiden Hündinnen nicht dabei sind, läuft es ja gar nicht soo schlecht. Ich möchte einfach nicht, dass er alles wieder vergisst und überhaupt nicht mehr an der Leine gehen kann und nur noch kommt, wenn er Lust hat. Und auch nicht, dass er richtig jagen geht!
    Wenn also noch jemand Tipps zu meinen Fragen zu Schleppleinentraining ohne Ablenkung hat, wäre ich sehr sehr dankbar!!!

  • Hi,
    mit Schleppleine hab ich so gut wie keine Erfahrung. Unser Hund ist immer in unserer Nähe. da kann ich Dir leider nicht helfen.


    Ich hab leider noch ein unangenehmes Thema: Sind die beiden Hündinnen kastriert? Doofe Frage, ich weiss. Ist alles kompliziert genug. Aber gleichwohl , Du ahnst auf was die Frage hinauslaufen könnte...


    LG


    Mikkki

  • Mikkki: ja, die beiden Damen sind sterilisiert, schon sehr lange, hier in Spanien gibt es einfach viel zu viele ausgesetzte oder aus anderen Gründen frei lebende Hunde... Die Jäger "verlieren" z.B. regelmäßig Hunde aus ihrer Meute, die dann hier durch den Wald irren. Traurig ist das.
    Liebe Grüße

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