Charaktereinschätzung eines Tierheimhundes - ein Ding der Unmöglichkeit?

  • Ich arbeite professionell mit Hunden und begegne dort natürlich auch regelmäßig Menschen, die ihre Hunde aus Tierheimen haben.


    Alle Hunde sind im Tierheim im "Notprogramm". Unter diesem Stress zeigte bisher kein Hund sein normales Verhaltensrepertoire wie es dann zu Tage kam, wenn die Hunde im neuen Heim nach einigen Wochen und Monaten endlich zur Ruhe kamen. Das kann negative, aber auch ganz positive Sachen zutage fördern.


    Die Hündin scheint noch sehr jung zu sein. Sie befindet sich also so oder so mitten in der Entwicklung und wird sich noch verändern.


    Ich würde daher eher danach gehen, ob Dir die Eigenschaften, die ein Schäferhund generell so mitbringt, liegen. Denn es ist zu erwarten, dass sie die früher oder später auspacken wird.


    Ich sage es ganz einfach: Wenn Du bereit bist Deinen neuen Hund so zu nehmen wie er ist, bereit bist Arbeit zu investieren, Dich für den Hund auch einzuschränken im Leben, dann ist die Hündin der richtige Hund.

  • Unmöglich nicht, aber schwierig. Der Hund steht im Tierheim unter enormen Stress, sieht tägliche viele verschiedene Menschen, es ist laut, unruhig und gleichzeitig langweilig für den Hund. Ihr kommt und holt ihn zum Spaziergang, da gibt es plötzlich so viel zu sehen, so viele Eindrücke und der Hund weiß nicht wohin mit Euch. Er kennt Euch nicht und vertrauen muss erst wachsen.


    Selbst wenn ich hier einen Hund in Pflege habe, der bei mir in der Familie lebt ... habe ich es schon oft genug erlebt das der Hund sich bei seinen neuen Menschen völlig anders zeigt. Meistens viel problemloser, denn hier ist er ja nur einer von dreien und ein Gast. Das ist etwas ganz anderes als ein richtiges Zuhause, Hunde merken das schon. Oft ist es auch das Interessenten zu mir kommen und der Hund sich kaum von mir lösen kann. Die Leute haben dann Zweifel, der Hund mag sie nicht oder fühlt sich hier viel wohler. Alles Quark, eine Beziehung aufzubauen dauert halt länger als eine Stunde. In einem neuen Umfeld hat man auch eine neue Chance, die man nutzen kann und muss.


    Tendenzen kann man natürlich erkennen, ist der Hund freundlich, ängstlich, neugierig, offen ... das ist doch schon viel und es ist Sache der neuen Besitzer darauf aufzubauen.

  • Ich möchte gerne realistisch sehen, dass wenigstens Tendenzen da sind, dass man ein gutes Hunde-Mensch Team werden kann. Und vielleicht klingt das bescheuert, aber irgendwie hab ich bei ihr das Gefühl, dass ich sie ganz toll finde und sinnbildlich gesprochen sage "Hey, lass uns doch mal schauen, ob wir zusammen passen könnten?" und sie sich denkt "Nee, lass mal, du bist zwar eine ganz nette Ische mit Leckerlie, aber MEIN Mensch schwimmt auf einer anderen Wellenlänge!" Wisst ihr wie ich das meine?

    Wenn du das Gefühl hast und vom Verhalten des Hundes nicht überzeugt bist, dann ist diese Art der Anschaffung ( Vertrauensvorschuss Aussagen Tierheim, Zeitdruck usw.) nicht die richtige für dich. Ich kann das gut verstehen. Mir kommt auch kein Hund ins Haus bevor ich mir nicht sicher bin, ob die "Basiseigenschaften" überhaupt gegeben sind.

  • Hab jetzt nicht alles gelesen, aber: der Hund kennt Euch nicht - weiß nicht, daß Ihr Euch mit dem Gedanken tragt, ihr ein Zuhause zu geben. Oder was sie sonst von Euch erwarten kann. Ihr seid für sie einfach "nette Leute, die mal mit mir Gassi gehn." Warum sollte sie sich weiter für Euch interessieren. Davon lernt ein Hund doch im Tierheim tauend Leute kennen im Laufe der Wochen. Die einen kommen einmal vorbei, andre öfter. Einfach nur irgendwelche Leute.


    Selbstverständlich wird sich das noch ändern, wenn sie dann bei Euch wäre, denn dann lernt sie, daß Ihr ihre neue Familie seid. Je nach Vorerfahrungen kann das dauern (wenn ein Hund schon mehrfach gewandert ist).


    Das bedeutet dann aber nicht zwangsweise, daß der Hund unterwegs plötzlich automatisch den Kopf immer bei Euch hat und rückfragt, bevor er Entscheidungen trifft etc...... Kann trotzdem durchaus sein, daß Euch das dann ein bissel Arbeit macht, ihr beizubringen, daß sie sich unterwegs bitte auch an Euch orientieren möchte, bevor sie zu andren Leuten hinrennt, fremde Hunde begrüßen geht, oder daß sie bitteschön nicht hinter Hasen herzugehen hat. Denn Bindung zu Euch heißt ja noch lange nicht, daß der Hund deswegen weiß, welches Verhalten unterwegs gewünscht wird von Euch :-) Das müßt Ihr ihr dann trotzdem beibringen. Aber Voraussetzung dafür ist natürlich erstmal die bindung, die im Laufe der Zeit entstehen wird, und die Ihr mit gemeinsamem Spiel, Erleben und Spaß, aber auch gemeinsam bewältigten Situationen (zB etwas zunächst Unheimliches zusammen erkunden, oder Dinge mit ihr machen, die sie noch nicht kennt, und sie dabei Erfolge erleben lassen) zusammen aufbauen könnt.

  • Ich würde das Desinteresse auch nicht überbewerten. Viele Hunde sind im Tierheim schlicht und einfach überfordert und haben erstmal gar nicht den Kopf dazu, sich näher mit ihnen völlig fremden Menschen zu befassen.


    Meine Hündin hab ich im Tierheim kennen gelernt, als sie gute 2 Jahre alt war. Ich war dann über 2 Jahre ihre feste Gassigeherin und Bezugsperson, bin mit ihr in die Hundeschule gegangen usw. Als ich sie dann im Alter von knapp 4,5 Jahren zu mir genommen habe, dachte ich, ich wüsste sehr genau, worauf ich mich einlasse.


    Trotzdem hat sie, seitdem sie bei mir zu Hause und richtig angekommen ist, Verhaltensweisen ausgepackt, die ich vorher von ihr nicht kannte - und zwar sowohl positive als auch negative.

  • Huhu,
    habe nur deinen Post gelesen und gebe dir einfach mal unsere Erfahrungen mit.


    Wir haben zwar was anderes gesucht (Schnarchnase :D ), aber so zur Einschätzung. Kamis Charakter hat sich eigentlich nicht geändert.


    Was wir wollten mal in Stichpunkten:


    Katzenverträglich


    Zwinger war direkt am Katzenaußengehege, sie hat weder auf die Katzen im ruhigen, als auch im dynamischen reagiert.


    Hundeverträglichkeit in Maßen (kein Hund der andere zum glücklich sein braucht)


    Sie saß mit zwei anderen Hunden zusammen, keine Ressourcenprobleme,... haben auf dem Spaziergang einen getroffen, mehr als "Hallo" sagen gab es nicht, mit denen im Gehege gab es keine Interaktion


    Kein Kläffer (Mietwohnung)


    Während die anderen anschlugen und bellten, stand Kami ruhig da. Auch heute bellt sie nicht einmal wenn es klingelt,...


    Stadttauglich


    Haben sie mal ins Auto gepackt und vor einem Kaufland abgeladen. Viele Menschen, ratternde Einkaufswagen, Fahrräder, rennende Leute,... Keine Reaktion, Tier ruhig. Wir wohnen sehr ruhig in Berlin, sie kommt hier super klar.


    Rückwärtsgang in Konflikten (wir hatten vorher eine Hündin, die Konflikte nach vorne ausgetragen hat)


    Habe sie mal kurz bedrängt, laut neben ihr aufgestapft, plötzlich mal laut Geschrien - hört sich doof an. Sie ist einen Schritt zurück gewichen ohne in Panik zu verfallen.


    Kein Thema mit dynamischen Reizen (Berlin Jogger, Radfahrer, Kinder im Freundeskreis,...)


    Ich bin mal neben ihr gerannt, gehüpft, gesprungen,... - kein Thema.


    Lernfähig


    Sie kannte halt wirklich nix. Hat sich im Wald mal vor einer Tüte gegruselt, beim Kaufland vor einem Gitter. Da wurde kurz stehen geblieben, es wurde sich angeschaut, es gab einen Keks und dann war das Thema für sie durch.


    Alleinbleiben möglich


    Sie hat im Gehege nicht an uns gehangen und auch nicht an den Pflegern, wenn man raus gegangen ist, hat sie sich entspannt hingelegt, während die anderen am Zaun standen und bellten.


    Kein Jagdtrieb


    Sie hat im Wald kein Interesse gezeigt. Allerdings an Kaninchen, da hätte man was ahnen können :hust:


    Menschen sind kein Problem


    Freundlich und eher unterwürfig, aber keine gesteigertes Interesse vorhanden.


    ***


    So, jetzt kommt es drauf an, was man vom Hund will.


    Kami ist bis auf den leichten gut zu händelnden Jagdtrieb (sie läuft inzwischen offline im Wald,... ohne Probleme) nix gravierendes ausgepackt.


    Die Bindung zu uns ist stark, aber sie hat kein gesteigertes Interesse an fremden Menschen, das ist in Berlin praktisch, will sie ja nicht an der Ampel von Fremden weghalten müssen. Zu uns hat sich eine super Draht und auch zu Familie und Freunden.


    Sie macht auch Sachen mit mir, ABER sie kommt draußen auch gut allein klar. ABER wir wollten das so, wir gehen gern spazieren und ich mag keine Hunde die dann an mir kleben, da kann sie gern ihr Ding machen.


    Eine Prognose kann man nie geben, aber die Bindung zu euch entsteht erst mit der Zeit. Kami hat uns die ersten Monaten draußen nicht wirklich beachtet. ABER inzwischen achtet sie auf einen, nimmt auch Beschäftigungsangebote gerne an,... Aktiv irgendeinen Sport könnte man mit ihr nicht machen, das würde ihr keine Freude machen und uns auch nicht. Sie ist eben ein Begleithund und das macht sie super. Wir halten zusammen Mittagsschläfchen, sie holt sich ihre Schmuseeinheiten, sie macht gerne was mit mir, alles ganz normal, aber sie stirbt nicht, wenn einer von uns nicht da ist und das ist perfekt.


    Ein Hund der sofort wie eine Klette an mir gehangen hätte, hätte ich persönlich nicht genommen, weil ich Angst gehabt hätte, das die Bindung dann ja noch stärker wird und das mit dem Alleinbleiben dann vielleicht schwierig geworden wäre und DAS wäre hier wirklich ein Problem.


    Also ja eine Tendenz kann man immer erahnen, der Grundcharakter bleibt oft, aber Sicherheit gibt es nicht und gerade das Thema Bindung braucht einfach Zeit.

  • Wenn ich ganz ehrlich bin? Ich glaube eher nicht, nein. Ich fände es völlig ok, wenn sie Zuhause gerne für sich ist und eben auch mal keinen Bock auf uns hat. Aber ich fände es offen gestanden doof, wenn ich etwas mit ihr üben/unternehmen möchte und das Gefühl kriege, sie tut mir maximal einen Gefallen und alles andere entspräche eher ihrer Laune.
    Ich möchte gerne realistisch sehen, dass wenigstens Tendenzen da sind, dass man ein gutes Hunde-Mensch Team werden kann. Und vielleicht klingt das bescheuert, aber irgendwie hab ich bei ihr das Gefühl, dass ich sie ganz toll finde und sinnbildlich gesprochen sage "Hey, lass uns doch mal schauen, ob wir zusammen passen könnten?" und sie sich denkt "Nee, lass mal, du bist zwar eine ganz nette Ische mit Leckerlie, aber MEIN Mensch schwimmt auf einer anderen Wellenlänge!" Wisst ihr wie ich das meine? xD

    Wenn du mit dem worst case nicht glücklich wirst, dann lass es.
    Dieser Zeitdruck ist ja auch nicht hilfreich und am Ende isses halt ein "Kann sich ändern, kann aber auch nicht". Wenn dir das aber wichtig ist, dann geh da kein Risiko ein.
    Es gibt doch noch soviele andere Hunde in den Tierheimen, irgendwo sitzt schon der oder die Richtige. Der Hund den ihr ohne großen Zeitdruck kennenlernen könnt.


    Für mich wäre ein distanzierter Hund kein Problem, aber ich hab auch 2 Schmusebacken hier sitzen und bin somit ausgelastet was Hundekuscheln angeht. :lol: Da wärs kein Problem wenn der dritte eben nicht so wäre.
    Aber als Einzelhund einen distanzierten, nein, das wär auch nix für mich.

  • Seh ich auch so.
    Wenn dir "Zusammenarbeit" sehr wichtig ist, nehme nicht diesen Hund. denn was passiert wenn er eben nicht so ist?
    Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es sich ändern (Alter und Rasse sprechen dafür)
    Aber was, wenn nicht ...

  • Ich arbeite professionell mit Hunden und begegne dort natürlich auch regelmäßig Menschen, die ihre Hunde aus Tierheimen haben.


    Alle Hunde sind im Tierheim im "Notprogramm". Unter diesem Stress zeigte bisher kein Hund sein normales Verhaltensrepertoire wie es dann zu Tage kam, wenn die Hunde im neuen Heim nach einigen Wochen und Monaten endlich zur Ruhe kamen. Das kann negative, aber auch ganz positive Sachen zutage fördern.

    Warum hält sich dieses Märchen so aufrecht ? Nicht in jedem Tierheim stehen Hunde unter solchem Stress, dass dadurch ihr normales Verhaltensrepertoire unentdeckt bleibt. Das ist Tatsache.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!