Sicherheit vermitteln und dabei trotzdem erziehen

  • Ihr Lieben,


    derzeit gehe ich mit einem Hund aus dem Tierheim Gassi, der sehr unsicher ist (ist ca. ein Jahr alt und hat seinem Verhalten nach zu urteilen bisher noch nichts kennengelernt, Vorgeschichte unbekannt). Die Situation im Tierheim ist natürlich besonders, weil ich ihn nicht von der Leine lassen soll und auch selbstverständlich nicht irgendwelche Training-Sessions starten darf. Allerdings würde ich ihm trotzdem die Spaziergänge so angenehm wie möglich gestalten und stoße dabei auf ein paar Probleme.


    Kurz eine Beispielsituation: Wir laufen ein kurzes Stück an einer Straße, was ihn schon total stresst (eingeklemmter Schwanz, Tendenz sich hinzusetzen, teilweise Zittern). Ich nehme ihn an die Seite, gehe ruhig weiter und versuche so alles möglichst normal wirken zu lassen. Dabei zieht er aber so an der Leine (Richtung Straße?!), dass ich ih zusätzlich quasi mit meinen Beinen blocken muss, um zwischen ihm und der Straße zu bleiben, was dann natürlich meinen Versuch, das Ganze locker zu gestalten, etwas zunichte macht. So weit so gut. Dann kommen wir endlich zum Feld, da steht ein Auto mit offenem Kofferraum und Hund drin, Besitzerin davor. Der Hund im Auto macht eigentlich nichts, außer zu gucken. Mein Hund völlig mit den Nerven am Ende, zittert, guckt da hin, kaum ansprechbar. Ich versuche mit möglichst großem Abstand und dem Hund wieder neben mir, weg von dem Auto, vorbei zu laufen. Die folgenden 500m guckt er sich immer wieder panisch um, will dafür sogar manchmal stehen bleiben, der andere Hund geht ihm also gar nicht mehr aus dem Kopf. Ablenkung mittels Leckerlie hilft nicht, er ist zu aufgeregt. Allerdings folgt er mir trotzdem mit lockerer Leine und reagiert auch auf meine körpersprachlichen Aufforderungen jetzt weiter zu gehen. Erst als wir den gleichen Weg zurück gehen und er dann an Ort und Stelle sieht, dass das Auto weg ist und also keine Gefahr mehr droht, kommt er wieder etwas zur Ruhe. Allgemein geht es meistens, wenn er die vermeintliche Gefahr genau examinieren kann (z.B. seltsame Gegenstände wie Mülltonnen oder so gucke ich mir natürlich mit ihm zusammen an) oder er halt sieht, dass sie wieder weg ist wie in der Situation. Aber ich kann ja schlecht mit ihm zusammen einfach zu fremden Hunden / Fahrrädern / Lastwagen /anderen Menschen gehen. Erstens wäre das unter Umständen wirklich gefährlich. Zweitens nervt das die anderen. Und drittens - das macht mich vor allem ratlos - soll er ja nicht lernen, dass er zu allen Menschen / Hunden sonstwas immer hin darf, um das anzuschauen. Manchmal habe ich auch versucht, mich einfach mit ihm mit Abstand hinzusetzen und ihn halt von Weitem schauen zu lassen, allerdings weiß ich auch nicht, ob das so viel Sinn macht. Wie handhabt man das am besten?


    Überall heißt es ja so was wie Ignorieren und Ruhe ausstrahlen - mache ich, bringt scheinbar nur bedingt was. Oder halt vorgehen, selber Gefahr abchecken - da kommt er dann ja hinterher bzw. ich habe ihn natürlich eh an der Leine. Dann habe ich das Problem, dass der Hund ja nicht zu allem hinkommen dürfen soll. Ich verstehe einfach nicht, wie man das genau umsetzen soll? Also ihm ermöglichen, sich mit den Sachen auseinanderzusetzen ohne ihm gleichzeitig beizubringen, dass er alle Gefahren anschauen und also kontrollieren muss, um sie nicht mehr gruselig zu finden. Es geht ja nicht darum, ihn zur Vermeidung zu erziehen (was wohl passieren würde, wenn man ihn nichts anschauen lassen würde), sondern ihn sich wirklich umweltsicher fühlen zu lassen. :???:
    Liegt es vielleicht auch "nur" an der mangelnden Beziehung? Klar, bei 4x die Woche Gassi ohne Training vertraut er mir natürlich nicht blind.
    Wie lange dauert es ungefähr, bis ein solcher Hund seine Angst überwindet, wenn man es richtig anstellt?


    Hintergrund meiner Frage ist auch, dass ich überlege, ihn komplett zu mir zu nehmen, weil er an sich wirklich ein Traum ist und ich mir ganz sicher bin, dass mit entsprechendem Training ein wunderbarer, toller Hund aus ihm wird. Da wüsste ich aber schon gerne vorher, wie ich mit so etwas umgehe.


    Ich danke euch und bin gespannt über eure Tipps!


    P.S.: Ich habe jahrelang Hundeerfahrung, hatte selbst bis vor Kurzem Hunde und arbeite als Schäferin, d.h. natürlich auch mit Hunden. Allerdings waren meine Hund immer von klein an bei mir, sodass ich mit großer Unsicherheit / Angsthunden bisher nur am Rande was zu tun hatte und da nie für Erziehung verantwortlich war.

  • Dann habe ich das Problem, dass der Hund ja nicht zu allem hinkommen dürfen soll.

    Wieso nicht?
    Wenn mein Hund Angst vor etwas hat, dann darf er da mit mir zusammen hin. Gesetzt dem Fall, es handelt sich nicht um unbelebte Gegenstände (die haben da bei mir einfach kein Mitspracherecht ;) ), sondern um Menschen, würde ich diese ansprechen und fragen, ob "der Hund mit ihnen üben darf". Dabei wäre wichtig, dass der Mensch den Hund komplett ignoriert. Also nicht anschauen(!!!), nicht anfassen, nicht ansprechen. So lernt er, dass von dem Gegenstand seiner Angst eben keine Gefahr ausgeht. Und er macht es mit Dir zusammen. Lock ihn nicht, zieh ihn nicht. Gehe einfach in seinem Tempo mit ihm dahin und orientiere Dich an dem, was der Hund leisten kann.


    Ist es nicht möglich, dass der Hund sich die Quelle seiner Angst aus der Nähe und in aller Ruhe anschauen darf, würde ich die Distanz größtmöglich vergrößern (am Besten einen Bogen gehen, das ist natürliches Hundeverhalten) und ihn schauen lassen!
    Da liebe ich das Beispiel mit der Spinne: Eine Spinne im Schlafzimmer zu sehen, wenn man Angst vor ihnen hat, ist schlimm. Diese Spinne nicht mehr zu sehen, ist der blanke Horror!
    Jedes Lebewesen muss die Chance haben, sich mit dem Objekt seiner Angst auseinandersetzen zu dürfen. Dies nicht zu dürfen verschlimmert die Angst nur noch.


    Es gibt viele viele Hunde, die mit Ignorieren bei Angst nicht klar kommen. Die brauchen regelmäßige Rücksprache mit ihren Haltern. Die müssen beruhigt werden. Sprachlich, durch Berührungen... Was auch immer der Hund annehmen kann und ihm hilft. Auch hier bestimmt der Hund und nicht der Halter, was gemacht wird.


    So, das ist das, was ich mit meinem Hund machen würde, bzw. zum Teil auch selbst gemacht habe. Aber Du musst Dir darüber klar sein, dass dieser Hund NICHT dir gehört.
    Sprich doch bitte mit den Leuten vom Tierheim über die Probleme. Frage sie, wie Du damit umgehen sollst. Ob es da vll. schon Trainingsschritte gegeben hat, die Du durch dein eigenmächtiges Handeln kaputt machen könntest, oder alternativ: Die durch richtiges, mit dem TH abgesprochenes Handeln, vertiefen und festigen könntest.

  • Hallo,
    toll, dass Du diesem Angsthäschen eine Chance gibst.


    Wir haben auch einen Schisser aus dem Tierschutz übernommen, von dem wir wussten, er ist ein Angsthund, aber diese Hunde merken schnell, wer es gut mit ihnen meint und "tauen" dann auf, nur, es braucht seine Zeit.
    Beim alleinigen Gassigehen ist es schwer, Vertrauen aufzubauen, da die häusliche Ruhe fehlt. Bei jedem Spaziergang gibt es Situationen, die den Hund stressen und dann ist er nicht mehr ansprechbar



    Liegt es vielleicht auch "nur" an der mangelnden Beziehung?

    Nicht nur, aber auch. Eine gute Bindung baut sich mit und mit auf und das nicht nur beim Gassigehen, sondern mit gemeinsamen Aktivitäten wie Spielen und das ist schwierig, wenn Du den Hund nicht ableinen kannst

    Hintergrund meiner Frage ist auch, dass ich überlege, ihn komplett zu mir zu nehmen, weil er an sich wirklich ein Traum ist und ich mir ganz sicher bin, dass mit entsprechendem Training ein wunderbarer, toller Hund aus ihm wird. Da wüsste ich aber schon gerne vorher, wie ich mit so etwas umgehe.

    Du bist für die Fotothreads nicht freigeschaltet, oder? In meinem Thread könntest Du viel lesen, wie ich/wir mit Faro trainiert haben.


    Wichtig ist, Ruhe, Geduld und nochmal Ruhe. Spaziergänge im Schneckentempo, so dass der Hund sich voll auf Dich einlassen kann und das tut er bei diesem Tempo relativ schnell.


    Viel mit ihm spielen, denn gerade das Spiel mit dem Menschen ist für Hunde sehr wichtig.

  • Die Angsthäschen sind schon etwas besonderes. In den Situationen wo er Panik zeigt kann er nichts lernen. Da gib ihm Sicherheit, zeige das du für ihn da bist und führe ihn aus der Situation. Trainieren kannst du nur in einem Abstand, in dem der Hund sich wohl fühlt. Das kommt auf den Hund an. Wenn mein ängstlicher Hund zu jemanden hin will und das kein Problem für denjenigen ist, darf er das und ich freue mich ein Loch in den Bauch. Es ist doch toll, wenn er keine Angst zeigt.
    Kommandos würde ich nur ohne Ablenkung, in ganz ruhiger entspannter Umgebung trainieren. Dann können sie auch Sicherheit geben. Z.B. ein Handtouch oder ein Sitz.
    Tendenziell würde ich lieber eine kürzere Strecke gehen und den Hund in Ruhe kucken lassen, schnüffeln, die Welt kennenlernen, beobachten und Vertrauen finden - immer in dem Abstand den er braucht.

  • ?

    Zitat von Yoomee

    Wie lange dauert es ungefähr, bis ein solcher Hund seine Angst überwindet, wenn man es richtig anstellt

    Ohne den Dich und den Hund zu kennen, lässt sich das nicht beantworten. Gut beraten wirst du von denen, für die solche Hunde zum Tagesgeschäft gehören.

  • Ich finde das in deiner Situation sehr schwierig, denn wenn du ihn bei jedem Gassigang immer wieder in solche Stresssituationen bringst, dann wird das vermutlich nicht besser. Sinnvoll wäre m.E. für diesen Hund, ihn erstmal nur dort Gassi zu führen wo er am wenigsten gestresst ist, was wahrscheinlich bedeuten würde, man kann nicht direkt vom Tierheim zu Fuß mit ihm weggehen.

  • Bei meiner generell sehr reaktiven und im Zweifelsfall eher schissigene Hündin (die man sicher nur bedingt mit einem richtigen Angsthund vergleichen kann) wirkt es bis heute Wunder, wenn sie sich dem Objekt des Schreckens frei und in ihrem Tempo nähern darf - dann siegt am Ende grundsätzlich die Neugier.


    Hier sind zum Beispiel ein paar Schnappschüsse vom Luftballon des Grauens, der, als sie fünf Monate alt war, plötzlich landete, vor dem sie erst furchtbar erschrak und den sie zum Schluß stolz erbeutet hat. Da siehst du sehr schön, wie Hunde sich bedrohlichen Objekten am liebsten nähern: in kleiner werdenden Bögen:






    Sie löst bis heute solche Situationen gern allein, legt aber großen Wert darauf, sich notfalls "an mich wenden" zu können, das heißt, sie möchte mal ein ermunterndes Wort oder sich bei mir verkriechen können, wenn es ihr zu bedrohlich erscheint.


    Natürlich hast du es mit einem fremden Hund, den du nicht loslassen kannst, da viel schwerer - aber kannst du nicht erstmal mit gestellten Situationen arbeiten? Also den Hund auf eingezäuntem Raum mit weniger Bedrohlichem konfrontieren, bis er sich daran gewöhnt hat, dass du generell seine Rückdeckung bedeutest? Dass also alles weniger gefährlich wird, wenn du dabei bist? Die Hauptfrage ist da sicher, wie eng du dich auf das Tier überhaupt einlassen willst, wieviel Zeit du hast - es ist sicher ein längerer, nicht ganz einfacher Weg.


    Ich stelle es mir ziemlich kontraproduktiv für euch beide vor, wenn ihr auf jedem Spaziergang gleich dem vollen Programm ausgesetzt seid. Der Hund soll doch eigentlich Erfolg haben, also eine Situation möglichst so bewältigen lernen wie mein Zwerg es auf den Bildern tut - und das kann er unter den von dir geschilderten Umständen ja gar nicht und macht nur eine Angst-Erfahrung nach der nächsten.

  • Ich stelle es mir ziemlich kontraproduktiv für euch beide vor, wenn ihr auf jedem Spaziergang gleich dem vollen Programm ausgesetzt seid. Der Hund soll doch eigentlich Erfolg haben, also eine Situation möglichst so bewältigen lernen wie mein Zwerg es auf den Bildern tut - und das kann er unter den von dir geschilderten Umständen ja gar nicht und macht nur eine Angst-Erfahrung nach der nächsten.

    Da sehe ich auch das größte Problem.

  • ...was übrigens im Extremfall dazu führen könnte, dass der Hund bald generell Spazierengehen und Angst verknüpft, überhaupt nicht mehr mitwill und draußen nur noch im Panik-Modus unterwegs ist.

  • Wir haben seit einem Jahr einen jungen Angsthund aus einer Perrera in Spanien, der einige Wochen in einem deutschen Tierheim war und dort wurde auch mit Gassigängern gearbeitet, wir sind auch einige Male mit ihm gegangen,bevor er zu uns gekommen ist.


    Ich finde das sehr gut und ihm hat es schon was gebracht, er hat Hundebegegnungen recht gut gelernt, konnte schon ohne Angst an anderen Menschen vorbeigehen und war zwar noch sehr ängstlich, aber nicht mehr völlig panisch an der Strasse.


    Aber so das richtige Training und die Bindung zu uns hat ehrlich gesagt erst bei uns zu hause angefangen.


    Das Thema Training von Angsthunden ist echt sehr gross und ich finde es gibt nicht den EINEN weg. Das Buch " Hab keine Angst mein Hund" gibt finde ich einige gute Erklärungen zum Verhalten und Tipps - aber auch da hab ich nicht alle Methoden genau übernommen.


    Darfst du Leckerlies geben? Wenn ein Angsthund "nur" aufgeregt und nervös ist, kann man einige Sachen "schön" füttern. Bei echter Panik hilft das das nicht.


    Die Idee, sich alles erstmal in Ruhe mit ein bisschen Entfernung anzuschauen, finde ich gut. Vielleicht kannst du ein kleines, möglichst wenig aufregendes Stück bis zu einer Grünanlage oder so gehen und da setzt ihr euch hin und schaut euch gemeinsam die Umgebung an.
    Wenn er etwas gerne anschauen möchte und es möglich ist, lass ihn und lob ihn dafür !


    Wnn Du ihn zu Dir nimmst brauchst du Geduld, es dauert alles ein bisschen länger mit Angsthunden. Und es ist ein Überraschungspaket. Unser hat Autofahren und Treppensteigen problemlos in 2 Tagen gelernt - dass hatte ich mir schwieriger vorgestellt. Aber er reagiert bis heute manchmal panisch, wenn zb einfach ein Buch von Tisch fällt und er in der Nähe ist. Oder er sich im Dunkeln in seiner Leine verheddert. Da haben wir noch was zu tun.


    Ich hatte vorher einiges an Erfahrung mit Hunden und auch Erziehung und musste trotzdem viel neu lernen. Auch über Körpersprache von Mensch und Hund.


    Viel Glück und liebe Grüße,
    Elzbeth

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