Ist Hundeerziehung heutzutage zu verkopft?

  • Wir hatten doch letztens erst hier mit dem Bauchgefühl in der Hundeerziehung und was das ist.


    Ich bin ja nun noch nicht wirklich alt, aber ich erinnere mich wie unser Familienpudel erzogen wurde.
    Mit der Zeitung und mit Nase ins Pipi stupsen, Leinenrucken und schimpfen, wenn er alleine war und was angestellt hat.
    Leckerlie gabs nach dem Spaziergang daheim, wenn er brav war. Wenn nicht dann gabs nix. Er wurde auch noch häufig geschnauzgrifft und als dann unser großer Mischling einzog wurde der auch mehr als einmal runter gedrückt mit Gewalt. Rudelführer und Platz zuweisen, der Hund darf nicht aufs Sofa und schon gar nicht ins Bett und er muss unterworfen werden. Das ist halt so und muss so weil sonst gehorcht der Hund nicht.
    Damit bin ich aufgewachsen.


    Was hätte mir meine Intuition gesagt mit diesen Vorannahmen zum Wesen Hund?


    Ich denke es ist wichtig und gut, dass Hundeerziehung sich heute viel mehr mit Lerntheorien und Hintergründen befasst.
    Ich muss auch nicht während ich mit meinen Hund etwas erarbeite ständig drüber nachdenken was die lerntheoretische Hintergründe sind, oder wie ich mit den Clicker arbeite.
    Das kann ich inzwischen einfach.
    Ich habe eine bestimmte und ziemlich veränderte grundlegende Sicht auf das Wesen von Hunden entwickelt und kann auf der Grundlage natürlich vieles mit "Bauchgefühl" lösen, aber bei vielen Sachen ist der vermeintlich komplizierte Weg über nen ordentlich Trainingsplan doch effektiver und schneller.


    Die Lerntheorien sind übrigens alle nicht erst gestern entstanden oder etwas besonders neues.


    Ich bin ehrlich gesagt froh, dass es viele neue Informationen gibt über Hunde und sich die Wissenschaft mit ihnen beschäftigt und es so möglich macht und gemacht hat, Hundetraining gewaltfreier und tierschutzgerechter zu machen.


    Intuition ist was feines, aber sie ist eben nur so gut, wie die Infornationen und Vorerfahrungen auf denen sie letztendlich immer beruht. Denn auch Intuition kommt nicht von irgendwo her.

  • Ich denke, dass man für Intuition und Bauchgefühl erst mal ganz viel eigene Erfahrung braucht.


    Für mich war es sehr hilfreich diverse Lerntheorien und dank vieler Bücher und mit Traineranleitung meinen ersten eigenen Hund kennenzulernen und einschätzen zu lernen. Ich hatte nicht das Glück mit Hunden aufzuwachsen, woher soll ich das wissen?


    Irgendwann kommt der Punkt, wo man mit verschiedenen Trainingsansätzen nicht mehr weiterkommt. Dann wird es Zeit sich von der Anleitung oder vom Rezept zu entfernen und sich das rauszupicken, was man selber authentisch vertreten kann und zur Situation und zum Hund passt. Man lernt daraus, was für einen umsetzbar ist und was nicht, was sich toll anhört aber nicht zum Hund passt und was gut funktioniert.


    Daraus entwickelt man Bauchgefühl.


    Meine Eltern haben ja grade auch einen Welpen, auch einen Collie. Wenn ich auf ihn aufpasse handle ich ausschließlich nach Intuition und mit viel weniger Leckerlies als mit meinem eigenen Welpen damals und es funktioniert wunderbar. Auch der Mensch muss erst mal lernen bevor er dem Hund was beibringen kann ;)

  • Wie extrem das Ganze inzwischen geworden ist, sieht man doch alleine schon an dem unsäglichen Wort: "Welpenblues"...


    Es wird heute generell viel zu viel Geschiss um ganz Selbstverständliches gemacht. (und es lassen sich so viele damit unter Druck setzen)


    Da muss geshaped, gemarkert, geckickert und sonstwie therapiert werden. *aaaargh*
    Alles natürlich immer schön mit englischen Fachbegriffen und mit einer ellllllllenlangen Theorie dahinter.


    Einfach mal machen, den Hund Hund sein lassen und sich freuen.
    Auch an kleinen Dingen.
    Einfach mal das Internet ausschalten und die ganzen Ratgeber beiseite packen.
    Einfach mal leben.

  • Ich denke dabei an ein Seminar bei dem ich mal war, sehr plüschballtheorie... es kam mir unautentisch vor, zumal die Leiterin auch sachen gesagt hat in denen man raushören konnte wenn man hin gehört hat das sie nicht in jeder Hinsicht so plüschball war, ich hab dann auch gesagt das sich das für mich nicht nach realen alltag anhört, dazu meinte sie dann auch das sie es wichtig findet in Trainingssituationen sehr darauf zu achten positiv zu sein weil das schimpfen wenn man mal frustriert ist und so was kommt dann so wie so von alleine.


    Und das denke ich ist schon so ein Punkt. Es macht Sinn sich mit der Theorie zu befassen und auch gezielt zu üben, aber (so fern man keine gravierenden Verhaltensprobleme bearbeitet die ständige Aufmerksamkeit erfordern) ab und zu sollte man die ganze Theorie und Übungen und Training in eine Schublade Stecken und die Zeit die man hat einfach genießen... öfter als ab und zu... denn wir lernen fürs Leben und leben nicht fürs Lernen.

  • Ich denke, dass man für Intuition und Bauchgefühl erst mal ganz viel eigene Erfahrung braucht.

    Mir geht es da ganz anders.


    Ich bin ja erst 24 und halte seit 3 Jahren (eigene) Hunde, kann also zur Hundeerziehung von vor 20 Jahren nicht viel beitragen. Was ich mir allerdings jetzt schon zurück wünsche, ist der völlig intuitive Umgang mit dem Hund.


    Als Beispiel:
    Vor 10 Jahren war ich mit meiner Familie im Türkeiurlaub und vor dem Hotel waren zwei Streuner unterwegs - ein Kangal und ein für mich nicht definierbarer Mix. Ich sah die Hunde und bin ohne zu zögern zu ihnen hin, während meine Mutter von hinten noch brüllte ich solle von den Hunden weg, sie könnten aggressiv oder krank sein. Damals verfügte ich weder über Rassekunde, noch kannte ich mich mit der Körpersprache der Hunde, geschweige denn irgendwelchen Lerntheorien oder Erziehungsmethoden aus. Trotzdem fühlte ich mich ganz besonders vom Kangal schon fast magisch angezogen und so bin ich zu ihm hin, hab ihn meine Hand beschnuppern lassen und hab ihn gestreichelt. Ich hab mir keine Gedanken darüber gemacht, ob er aggressiv sein könnte oder nicht; ich hab einfach "gespürt", dass ich mich ihm problemlos annähern kann. Bei dem Mix wiederum spürte ich, dass er auch gut alleine klar kommen würde, also ließ ich ihn in Ruhe und wartete, bis er sich von selbst annäherte. Von dem Zeitpunkt an folgten mir die Hunde - zur Freude meiner Eltern :lol: - überall hin, warteten vor dem Hotel, schlenderten mit mir die Straße entlang, warteten vor den Geschäften bis ich wieder raus kam und folgten mir zurück. Und das ohne sie je gefüttert zu haben; sie sahen gut genährt aus, nur Wasser gab ich ihnen ab und zu. Bei uns stimmte die Energie einfach, so blöd sich das jetzt auch anhört.


    Heute würde ich niemals mehr auf einen Streuner zugehen, ohne seine Körpersprache zu studieren, mögliche Gefahren abzuwägen und nötige Sicherheitsvorkehrungen zu treffen :hust: dieses Gespür von damals fehlt mir heute einfach und das macht mich wirklich traurig. Ich kann den Eingangspost gut nachvollziehen.. vieles klappt so wunderbar, wenn man sich einfach auf sein Bauchgefühl verlässt und handelt, ohne großartig darüber nachzudenken.


    Je mehr man liest, recherchiert und sich weiterbildet, umso weniger weiß man letztendlich :verzweifelt:

  • Ich muss da @Nebula völlig zustimmen.


    Wenn man mit Hunden aufgewachsen ist, immer Hunde in der Nachbarschaft hatte und schon den zigsten eigenen Hund hat, dann ist es leicht zu sagen "Hör doch auf dein Bauchgefühl".


    Wenn man das alles aber nicht hatte, wie soll man auf das Bauchgefühl hören, bei einem Wesen, das so ganz anders tickt als man selber? Da finde ich eine theoretische Unterfütterung ganz angenehm. Ich hatte auch den "Welpenblues", weil ich mich vorher viel informiert und gelesen hatte. Ja, mei, es lief ganz anders, als ich es erwartet habe, aber daraus habe ich gelernt. Aber irgendwann konnte ich es mit meinem theoretischen Wissen, dem Besuch der Hundeschule und dem Gespräch mit Trainern einordnen, was da vor sich geht, wie ich das zu bewerten habe und an welchen Schrauben ich drehen muss. Aber das ist halt ein Lernvorgang.


    Und wenn ich so beobachte, wie es aussieht, wenn Leute ohne Hundeerfahrung oder nur mit Bauchgefühl alles frei Schnauze machen.. nun, dann bin ich froh, wenn sie einen unproblematischen Hund haben. Denn da kommen dann auch die ganzen Tut-Nixe und Tut-Doch-Wasse her. Diejenigen, die sich vorher viel anlesen, Trainer besuchen, sich austauschen und ein bisschen verkopft sind, versuchen dann aber auch meistens, an Baustellen zu arbeiten. Die anderen, die schon immer Hunde hatten und schon immer es so gemacht hatte, übersehen dann halt schon mal, dass die eben grad nicht nur spielen, oder das der Hund eigentlich kein Peil hat, was Herrchen von einem will, und trotzdem auf die Fresse kriegt.


    Also, Bauchgefühl schön und gut, aber solange man keine Erfahrung hat, schadet theoretisches Wissen jetzt auch nicht unbedingt.

  • Ich denke ja mal, dass die Tatsache, dass man einen Hund nicht straft (schon mal gar nicht körperlich) wenn er etwas tut, wovon er gar nicht weiß, dass das nicht getan werden darf, hat wenig mit Bauchgefühl zu tun.


    Eher mit ganz normalem Menschenverstand.


    Wenn man sich dann noch verinnerlicht, dass Hunde in den ALLERallermeisten Fällen Dinge, die sie tun, NICHT tun, um ihre Menschen zu ärgern, sondern weil sie es nicht besser wissen oder nicht besser können in dem Moment ("Trieb", Frust...), ist der Rest eigentlich gar nicht so schwer.

  • @Cattlefan
    Naja, dann geht aber vielen Menschen der gesunde Menschenverstand ab. Und um sich mit "Trieb" und "Frust" auseinander zu setzten oder zu wissen, wie das aussieht, muss man durchaus entweder Erfahrung oder theoretisches Wissen haben.


    Und wenn man die ganzen Neuhundehalter hier im Forum liest: Wie oft schreiben sie, dass der Hund/Welpe das aus Frechheit gemacht hat? Wie oft sagen sie "Ich habe ihm mit Nein es verboten, aber er hat es trotzdem gemacht"? Und dabei übersehen, dass er gar kein Nein kennt? Wie oft wird Rammeln mit Dominanz oder Sexualität gleich gesetzt?


    Es hat insofern was mit Bauchgefühl zu tun, dass man "aus dem Bauch heraus" auf diese Taten reagiert. Wenn man verinnerlicht hat, warum der Hund so handelt, entsteht aber ein anderes Bauchgefühl, als bei jemandem, der von der Theorie null Ahnung hat.

  • und sonstwie therapiert werden. *aaaargh*

    Wenn ich bedenke, wie früher mit Hunden verfahren wurde, die "nicht erziehbar" waren, bin ich ziemlich dankbar dafür, dass es solche Ansätze gibt.
    In meiner Kindheit ist man mit solchen Hunden in den Wald gegangen und ohne wieder zurückgekommen.

  • "Bauchgefühl" ist am Ende nix anderes, als eine Mischung aus Wissen und Erfahrung. Wenn man über theoretische Grundlagen verfügt und mit einer größeren Anzahl an Hunden gearbeitet hat, klar dann analysiert man nicht mehr alles, sonder macht einfach.


    Wenn jetzt aber jemand den ersten Hund hat und dazu etwas irgendwo aufgeschnapptes Halbwissen (wie die immer noch sehr verbreitete Ansicht, der Hund muss gehorchen, weil der Mensch Rudelführer ist), wie soll da das Bauchgefühl bei der Erziehung helfen? Am wahrscheinlichsten wird dann unbewusst auf vertraute Konzepte zurückgegriffen. Da kommen dann Hundehalter heraus, die mit ihrem Hund diskutieren, ihn den halben Spaziergang lang mit Futter vor der Schnauze irgendwo vorbei locken, oder aber auch mit permanenter Einschüchterung und Gewalt arbeiten, dem Hund menschliche Sichtweisen zuschreiben (wie das berühmte schlachte Gewissen)...


    Ja, es gibt auch ab und an Leute, die einfach einen guten Draht zu Hunden haben, aber das trifft sicher nicht auf die Mehrheit der HH zu. Dann gibt es die, die einfach einen einfachen Hund haben, wo man vieles laufen lassen kann und es trotzdem gut geht. Aber wenn ich mir viele Mensch-Hund-Gespanne hier in der Umgebung anschaue, dann würde es dem Großteil sicher helfen, sich vorher zu überlegen, was ich wie trainieren möchte. Würde den Menschen viel Frust und den Hunden viel Verwirrung ersparen.


    LG Maren

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